Schlagwort: Politik

Rede mit mir!

Manchmal ist der Einstieg in ein Thema einfach. Manchmal nicht. Also warum nicht mal so umständlich wie irgend möglich ins Thema einsteigen? Hier also mein geistiger Seitfallzieher vom Fünfmeterturm:

Millionen Jahre lang lebte die Menschheit wie die Tiere. Dann geschah etwas, das die Kraft unserer Phantasie freisetzte. Wir lernten zu sprechen und wir lernten zuzuhören. Die Sprache hat die Kommunikation von Ideen ermöglicht und die Menschen in die Lage versetzt, zusammenzuarbeiten und das Unmögliche zu schaffen. Die größten Erfolge der Menschheit sind durch Reden entstanden, die größten Misserfolge durch Nichtreden. Das muss nicht so sein. Unsere größten Hoffnungen könnten in der Zukunft Wirklichkeit werden. Mit der Technologie, die uns zur Verfügung steht, sind die Möglichkeiten unbegrenzt. Wir müssen lediglich dafür sorgen, dass wir weiter miteinander reden.

– Steven Hawking

Das Zitat habe ich aus dem Song „Keep Talking“, ein Song der Progressive Rock Band „Pink Floyd“. Steven Hawking sagt unter anderem, dass wir es uns nicht erlauben können, nicht zu reden. Und trotzdem beobachte ich genau das.

Also, über was reden wir hier? – Fallbeispiele

Zum Beispiel bei einem Tischgespräch mit Kollegen nach der Debatte zwischen Kamala Harris und Donald Trump Anfang September 2024. Auf offene Fragen kamen mehrfach eher ausweichende und kurze Antworten. Ich hatte ein Bekenntnis zur eigenen Meinung erwartet, aber sehr harmoniebedachte Positionen zur Meinungsfreiheit und Demokratie bekommen.

In einem anderen Gespräch hat mir ein Kollege von Ideen für eine Reform des Amerikanischen Wahlsystems erzählt. Auf meine Frage, warum er darüber nicht offen reden würde, meint er, dass Reden mit Gleichgesinnten nichts verändere und mit Andersdenkenden noch weniger. Also reden wir beim Essen weiter über Hunde, die Sportergebnisse oder das Wetter.

Auf der anderen Seite habe ich im Sommer eine Konversation einer Gruppe junger Menschen in Barton Springs, einem öffentlichen Schwimmbad in Austin, mitbekommen. Bis auf zustimmendes „Yeah man!“ und „Dude!“ aus der Gruppe, war es mehr ein Monolog eines ausgewachsenen Jugendlichen Anfang Mitte zwanzig über sein Dating-Leben. Nach 10 Minuten hatte ich immer noch nicht begriffen, was er mitteilen wollte.

Eine andere Art von Monolog habe ich auf dem „Texas Renaissance Fest“ beobachtet: Beiläufig beobachte ich eine Frau, die auf einen Typen einredet, der sich gerade an einer Hähnchenkeule erfreut. Sie meint, dass er rücksichtslos sei und ob er sich Gedanken über das Tier und das Klima mache. Und während ich selbst Vegetarismus unterstütze, habe ich mich gefragt, welches Ziel diese Frau mit dem unverhohlenem Angriff erreichen möchte.

Im Kontrast dazu genieße ich die Diskussion über politische Themen mit einem bestimmten Kollegen sehr. Kürzlich hatten wir eine angeregte Debatte über Demographie. Während ich die Meinung vertreten habe, dass ein natürlicher Bevölkerungsrückgang nachhaltig ist, hat er die Position vertreten, dass dadurch im gegenwärtigen Wirtschaftssystem wenige junge Menschen viele alte Menschen versorgen müssen.

Na, weil ich das so sage. – Emotional aufgeladene Debatten

In Diskussionen wie diesen sind wir grundsätzlich unterschiedlicher Meinung. Einer von nimmt aus Prinzip die Gegenposition ein. Und obwohl es nicht schick ist, lasse ich mich emotional mitreißen. Schnell habe ich den Stempel, nicht „sachlich“ zu sein und der Dialog kippt zum Streit.

Natürlich ist es toll, wenn man die Distanz beibehalten kann. Kann man nicht einfach Argumente und Gegenargumente vortragen, Punkte für die Argumente vergeben und am Ende einen zum Sieger küren, wie bei einem Boxkampf? Und dann geben sich beide die Hände, betonen wie sehr sie einander und die Konversation schätzen und das Thema wird geschlossen?

Ich glaube nicht, dass das für mich funktioniert. Ich bin emotional in den Debatten, deren Inhalt mich wirklich interessiert. Und wenn mich der Inhalt nicht interessiert, dann lasse ich die Debatte bleiben. Doof wird es, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, meinen Gegenüber zu verstehen. Auch wenn ich die Argumente nicht gutheißen muss, möchte ich sie nachvollziehen können. Schließlich möchte ich von jedem Gespräch etwas lernen. Verstehen, wie andere Menschen denken und warum sie so denken.

Ehrlicherweise ist mir das meistens nicht genug. Ich möchte meinen Gegenüber von meiner Position überzeugen. Eine neue Verbündete für meine Idee gewinnen. Denn schließlich habe ich ja Recht, oder? Meine Erfahrung ist eher, dass ich nicht richtig liege. Dass die Realität komplex ist und es selten einfache Antworten gibt. Und selbst wenn ich denke mehr zu sehen, ist es echt schwierig meinen Gegenüber dazu zu bringen, meine Perspektive einzunehmen. Vor allem unmittelbar in der Situation.

Was ist also der Sinn der Debatte, wenn ich nicht erwarten kann, dass jemand seinen Standpunkt ändert? Ich kann immer etwas lernen und meinen Horizont erweitern. Und statt eine neue gemeinsame Wahrheit zu finden, bin ich sehr zufrieden wenn wir beide die Möglichkeit haben, unsere Wahrheit zu hinterfragen.

Das wird man doch sagen dürfen! – Gesprächstaktik

Auch diese Ziele verfehle ich oft genug, weil einer von uns oder beide ganz schön stur sind. Was fällt den anderen auch ein, so überzeugt von ihren Weltbildern zu sein? Im 2024 erschienenen Film „Conclave“ sagt Kardinal Lawrence in einer Predigt zu den Kardinälen, die einen neuen Papst wählen sollen, aber in mehrere Lager gespalten sind: „Gewissheit ist der Feind von Einigkeit.“

Certainty is the enemy of unity.

Kardinal Lawrence, Conclave

Wie also die Gewissheit des Gegenüber aufweichen? Ich habe ein paar Strategien.

Mit wem rede ich?

Je besser ich meinen Gegenüber kenne, desto besser kann ich meine Argumentation anpassen. Das ist kein neues Konzept, sondern wird seit Jahrzehnten in der Werbeindustrie gelebt. Das Zauberwort ist „Zielgruppenorientierung“. Mit viel Empathie kann ich die Motivation meiner Zielgruppe erraten und meine Argumentation entsprechend Anpassen.

Dabei muss meine Zielgruppe auch nicht zwangsläufig meine Gesprächspartnerin oder mein Gesprächspartner sein. Der Ex-Freund einer engen Freundin hat eine starke politische Meinung, von der er allerdings durch kein Gespräch der Welt abzubringen war. Obwohl ich ihn nur schwer von meinen Ideen überzeugen kann, habe ich die Debatte immer wieder gesucht. Wenn wir diskutiert haben und sie zugehört hat, konnte sie Argumente von beiden Seiten hören und die Ansichten übernehmen, die am besten mit ihrem Weltbild vereinbar waren.

Das wäre zu viel gesagt.

Ein Stilmittel vieler Populisten ist die absichtliche Übertreibung. So behauptete die rechtspopulistische CSU 2017, dass durch den Familiennachzug viel zu viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden. Und während ich mich im Gespräch mit einem CSU-Wähler auf die Position zurückziehen werde, dass die CSU in diesem Falle rechtspopulistische Propaganda unterstützt hat, verfängt bei einem Teil meiner Zielgruppe die Aussage, dass man der bayrischen Splitterpartei der Christdemokraten nicht trauen kann.

Diese Strategie hat einen Preis: Darunter leidet meine Glaubwürdigkeit als Experte. Aber der geneigte Leser wird ahnen, dass ich gar kein Experte bin und dass das alles nur billiger Populismus ist. Ich möchte an dieser Stelle vom (übermäßigen) Gebrauch dieses Stilmittels abraten. Es untergräbt systematisch das Vertrauen ineinander und eine gesunde Debattenkultur.

Im Kontrast zu einer politisch korrekten und relativistischen Debatte über den Einfluss von Überreichen auf demokratische Prozesse finde ich ein plakatives „Eat the rich!“ dennoch greifbarer und manchmal zielführend. Man kann auch mal eine extreme Position in den Raum werfen um diesen für eine Debatte zu öffnen, ohne die Position verteidigen zu müssen. (Mehr dazu in meinem Artikel „Mehr sozialen Populismus wagen“ von 2021.)

Einfach mal „Danke!“ sagen.

Versöhnlicher ist es natürlich, den Gegenüber ein Punkt machen zu lassen, und sich vielleicht sogar für einen neuen Aspekt zu bedanken. Ich bin deutlich eher bereit, über die Position meines Gegenübers nachzudenken, wenn sie oder er mich mit Respekt behandelt. Außerdem verleiht ein „Danke“ direkt ein staatsmännisches Auftreten.

Im Gegensatz dazu ist es ein Pyrrhussieg, wenn ich die Debatte dominiere, sich danach aber niemand mit mir unterhalten mag. Wenn man es so formulieren mag, ist es besser die Schlacht zu verlieren, als den Krieg. Weniger martialisch ist zu betonen, dass es langfristig viel schöner ist, Gemeinsamkeiten zu finden über die man sich immer wieder verbinden kann. Die können auch ein Ausgangspunkt für weitere Gespräche sein. Und am Ende sitzen wir doch alle im selben Boot.

Memo an mich: Ich möchte in Zukunft öfter andere das letzte Wort haben zu lassen. Deshalb interessiert mich brennend, was Du als Leserin oder Leser von diesem Artikel hältst, welche Erfahrungen Du in Dialogen schon gemacht hast und welche deine Gesprächsstrategien sind. Ich freue mich über deinen Kommentar.

Was ich noch sagen wollte:

„Einigung Europas“ von mir

Eine Freundin hat mir die Rede „Einigung Europas“ von Stefan Zweig geschickt und mich gebeten, ob ich nicht einen Text dazu beitragen könnte. Diese Geste hat mich so gefreut, dass ich umgehend angefangen habe zu schreiben. Nicht nur, dass ich mich liebend gerne über Europa, dem Konzept der Europäischen Union und der europäischen Idee äußere, sondern auch, weil es mir viel bedeutet, gesehen und nach meiner Meinung gefragt zu werden.

Ich bin für zwei Jahre in Texas. Ein halbes ist fast rum und ich lerne echt viele Dinge. Offensichtliche Dinge wie, dass „conundrum“ „Rätsel“ heißt. Nicht ganz so offensichtliche Dinge, wie dass Verbraucherschutz und TÜV sehr europäische Ideen sind. Und auch Dinge, die sich mir erst langsam erschließen, wie dass eine Sozialisierung in der US-amerikanischen Gesellschaft eine völlig andere Kultur hervorbringt und dass ich mit meiner deutschen Sozialisierung mit jedem Schweden, Italiener, Portugiesen und Rumänen wahrscheinlich viel mehr gemein habe als mit einem US-Amerikaner.

Auch wenn es nicht immer so wirkt, haben wir bereits eine europäische Kultur. Wir haben Jahrhunderte gemeinsam verflochtener Geschichte, steinalte Kirchen, Fußgängerzonen, Sozialleistungen, den fantastischen Fernsehsender arte, öffentlichen Nah- und Fernverkehr, den eben schon erwähnten Verbraucherschutz, das Erasmus-Programm, Handball-Europameisterschaften und das Interrail-Ticket. Die Europäische Union ist der größte Markt der Welt und, auch wenn ich den Prozess als schleppend empfinde, sind wir dabei, Ökonomie, Ökologie und Sozialstaat miteinander zu vereinbaren. Europa hatte schon immer eine gemeinsame Geschichte und viel Wichtiger ist, dass wir vor allem eine gemeinsame Zukunft haben. Dem fanatischsten Faschisten ist bewusst, dass keine Alternative zu Europa vermittelbar ist.

Aber entgegen häufiger Darstellung sind Faschisten nicht dumm. Sie haben wie die Werbeindustrie gelernt unsere menschlichsten Empfindungen zu instrumentalisieren: Unser Selbsterhaltungstrieb, unsere Hormone und unsere Emotionen und Gefühle machen uns beeinflussbar. Deshalb wird es immer bequemer sein, eine gefühlte Realität mit biederem Familienmodell und überholten Wirtschaftsmodellen und eine romantische Verklärung der Vergangenheit mit biodeutschen Wurzeln und einem sorgfältig kuratierten nationalen Narrativ zu akzeptieren, als etwas zu verbessern. Auch, weil es einfacher ist, das Wetter, die Kollegen oder die Arbeit der Bunderegierung zusammen doof zu finden, statt sich gemeinsam für beispielsweise fahrradfreundliche Innenstädte, ehrenamtliche Vereinsarbeit oder Bürgerräte zu begeistern und einzusetzen.

Leider haben Faschisten mit Angst gegenüber vor Perspektivlosigkeit und Verfolgung Fliehenden und Stolz auf eine bestenfalls eigenwillige Geschichtserzählung besorgniserregend große Teile der Gesellschaft in emotionale Geiselhaft genommen. Obwohl soziale Parteien überlegene Ideen haben, sind Ergebnisse wie in Sachsen und Thüringen im September 2024 oft ernüchternd. Ich brauche keine rhetorischen Fragen zu stellen, um zu sehen, dass die Inhalte offensichtlich nicht so überzeugen. Dabei liegt es meiner Meinung nach nicht an den Inhalten selbst, sondern an einem seit der Aufklärung falschen Bild vom „rationalen Menschen“, der vernünftig und logisch entscheidet.

Ich lerne mich jeden Tag ein bisschen besser kennen und erkenne auch als studierter Ingenieur bei mir und meinem Mitmenschen: Da ist das allerwenigste rational. Oder auf vollständigen Informationen basiert. Oder vernünftig. Der Kollege, der seine Meinung mit Verweis auf seine Tabelle für „objektiv“ hält, reagiert sehr wahrscheinlich emotional. Sind wir beim Design unserer Demokratie davon ausgegangen, dass Menschen rational und vernünftig handeln? Dann sollten wir vielleicht unser Menschenbild aktualisieren.

Stefan Zweig hat das gesehen. All die großartigen Errungenschaften Europas sind schwer zu vermitteln, wenn wir sie nicht wertschätzen können. Was habe ich von CERN und die ESA bezahlt auch nicht meine Miete! Medien haben eine mächtige Rolle im Spiel um Deutungshoheit und unsere Emotionen. Emotionen sind Reichweite, Reichweite ist Deutungshoheit, Deutungshoheit ist Wahrheit.

Was wir tun können, ist unsere eigene Geschichte erzählen. Eine Geschichte, in der eine deutsche Ampel-Regierung mit Bürgergeld, Cannabis-Entkriminalisierung und Deutschlandticket mehr Dinge verbessert hat als 16 Jahre konservativer Stillstand. Eine Geschichte von einem Kontinent, der bei der Bekämpfung einer Pandemie erfolgreich zusammengearbeitet hat. Eine Geschichte von einer Wirtschaftsgemeinschaft, die durch ein gesellschaftszentriertes Weltbild eingesehen hat, dass nur ökologisches Wirtschaften nachhaltig die Versorgung aller sichert. Eine Geschichte, in der die europäischen Staaten, ohne zu eskalieren einen russischen Diktator nicht in seinem Angriffskrieg auf die Ukraine gewähren lassen.

Und ich möchte von einer Zukunft erzählen. Einer Zukunft, in der vereinte europäische Streitkräfte Werte wie Gleichheit und individuelle Freiheit hochhalten, abgestimmt handeln um Konflikte und Leid zu vermeiden und dabei den Austausch vieler Kulturen fördern. Ich möchte von einer Zukunft erzählen, in der Reisen mit der Bahn in ganz Europa unkompliziert, schnell, pünktlich, sicher und für jeden erschwinglich völlig normal ist. Ich möchte von einer Zukunft erzählen, in der wir Kindern und jungen Erwachsenen helfen, mit ihren Hormonen, ihren Emotionen und ihren Gefühlen umzugehen, sich darüber auszutauschen, statt sie hinter einer normativen und konformen Fassade wegzusperren. In der Hoffnung, dass Europa als Musterbeispiel dient und wir jeden, der mit uns lernen möchte, mit offenen Armen empfangen können.



Mehr sozialen Populismus wagen

Seit 20 Jahren verändert sich politisch kaum etwas. Dazu hat auch das nunmehr 16 sehr lange Jahre andauernde Angelozän beigetragen. Das muss erstmal nicht schlecht sein. Die Regierungen unter Angela Merkel haben durch minimalstinvasive Politik eine eigene Art der Stabilität geschaffen. Den Status quo zu halten ist allerdings nur für diejenigen von Interesse, die damit eigentlich ganz zufrieden sind oder sogar davon profitieren. Dazu gehören wohl die allermeisten in diesem Land nicht und dennoch sind die Chancen, dass dieses Land und Europa auch in der kommenden Legislaturperiode von Lethargie und Konservatismus geprägt werden, gar nicht mal schlecht. Wo sind sie also, die nicht vom Ist-Zustand profitieren?

Erklärungsversuche

Zum einen gibt es einen nicht unerheblichen Teil, der dem „American Dream“ verfallen ist, in der festen Überzeugung, dass „wenn man nur hart genug arbeite, werde man auch irgendwann zu den Privilegierten gehören“. Dieser Ansatz impliziert die Erklärung warum man (noch) nicht zu den Wohlhabenden gehört: Man hat einfach nicht hart genug gearbeitet.

Wenngleich einiges durch Arbeitsaufwand erreicht werden kann, ist dieser Traum für die meisten doch eine zunehmende Illusion. Es gibt durchaus mehr Faktoren, die den Erfolg beeinflussen: Bildung, Persönlichkeitsmerkmale, finanzielle Ausgangslage, Flexibilität und neben vielem mehr auch immer ein nicht unbedeutender Bestandteil Glück. Während einige dieser Startvoraussetzungen bist zu einem gewissen Grad beeinflusst werden können, gibt es andere, die uns in die Wiege gelegt werden und mit denen wir fortan zurecht kommen müssen. Während Wohlhabende ihre Kinder auf Privatschulen schicken, ihnen Zugang zu Stipendien ermöglichen und problemlos Wohnungen in Uni-Städten mieten oder sogar kaufen können, bleiben diese Privilegien vielen vorenthalten. Auch BAföG kann in seinem derzeitigen Umfang diese Ungleichheiten nicht beseitigen.

De facto gibt es eine wachsende Ungleichheit in Deutschland und das führt dazu, dass jener „American Dream“ nur noch bedingt funktionieren kann. Die soziale Mobilität nimmt ab (Anmerkung des Autors: Und das mag was heißen, wenn sogar die FAZ darüber berichtet.). Je nach Auslegung gibt es also für die unteren 40-90% in Deutschland überhaupt keinen Grund, den Status quo aufrecht erhalten zu wollen.

Wie lässt sich dann aber erklären, dass soziale Parteien dennoch keine Mehrheiten bei Wahlen erringen können? Die Antwort darauf ist sicher weder monokausal noch einfach. Ich möchte mir nicht anmaßen, das vollumfänglich erklären zu können, aber einen Ansatz möchte ich hier anbringen: Vielen Wählern ist nicht klar, wo sie aktuell in der Gesellschaft stehen, wie sich unsere Gesellschaft kurz-, mittel- und langfristig entwickeln wird und wie sie das in ihrem Interesse beeinflussen können. Dass die Welt sehr komplex ist, viel komplexer als ich mit meinem beschränkten Geist zu erfassen in der Lage bin, ist mir durchaus bewusst. Deshalb muss ich mich auf wesentliche Dinge beschränken und klare Prioritäten setzen.

Ein Negativbeispiel ist das Wahlprogramm der SPD (wobei das den Wahlprogrammen der übrigen Parteien in Sachen Komplexität kaum nachsteht): Auf der ersten Seite werden fünf Punkte genannt, die mit einem kurzen Satz erklärt werden.

I. Zukunft. Respekt. Europa.

Der Klimawandel, die Arbeit von morgen, Chancengerechtigkeit, der Zusammenhalt der Gesellschaft, die Einheit Europas – das sind die Themen, die unsere Zukunft bestimmen.

SPD zukunftsprogramm 2021

Was genau nun Respekt und Arbeit von morgen mit dem Klimawandel und der Chancengleichheit zu tun haben, oder was den gesellschaftliche Zusammenhalt mit der Einheit Europas und alles zusammen mit Zukunft verbindet? Ich kann es intuitiv nicht sagen. Es bleibt sehr abstrakt, die Punkte sind mehr eine Akkumulation verschiedener Buzzwords und die Inhalte bleiben vage. Auch ein Klick auf die detaillierte Erläuterung hilft nicht viel: Zunächst werden Fragen aufgeworfen, die im weiteren Verlauf allerdings nicht wirklich beantwortet werden. Vielmehr gibt es viel Kritik und schöne Visionen einer utopischen Zukunft. Es ist allerdings wenig Greifbares dabei, es mangelt an konkreten Ideen für die Beantwortung der vielen, vielen Fragen.

Persönlich fühle ich mich von sehr konkreten Überschriften deutlich eher angesprochen. Und das geht wohl auch den meisten BILD-Lesern so. Wenngleich ich dieses Medium missbillige, kann ich seinen Methoden eine Erkenntnis abringen: Natürlich kann man so die Sachlage in all ihrer Komplexität nicht vollständig abbilden. Das ist aber meiner Meinung nach auch nicht die Aufgabe der Politik, sondern der Wissenschaft. Durch Steuergelder werden die Abgeordneten unserer parlamentarischen Demokratie dafür bezahlt, Probleme in ihrer Komplexität zu erfassen und dezidierte Entscheidungen zu treffen. Die Kommunikation mit dem Wähler, ob über Wahlprogramm, Pressekonferenz oder Medien, muss aber keinem wissenschaftlichen Anspruch genügen, sondern darf durchaus eine einfache Abbildung der Realität sein. (Wer sich informieren will, soll dies selbstverständlich auch weiterhin tun können und auch gerne tun!) Populismus ist ein valides Instrument demokratischer Politik.

Genau das haben Rechtspopulisten (inklusive der oben genannten BILD-„Zeitung“) erkannt und fangen Wählerstimmen mit sehr simplifizierten Aussagen. Mit diesen Aussagen erreichen sie den durchschnittlich gebildeten und durchschnittlich interessierten Bürger. Auch soziale Parteien könnten von aufs Wesentliche reduzierten Aussagen und konkreten Forderungen profitieren. Allerdings ist Populismus in diesen Kreisen ein in Verruf geratenes Instrument. Denn selbstverständlich polarisiert Populismus und kann somit zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Deshalb braucht es Diskurs und Begegnung, öffentlichen Meinungsaustausch und Streitgespräche auf dem Marktplatz. Am besten ohne argumentum ad hominem und so, dass die Würde des Gegenüber gewahrt bleibt. Wir brauchen weniger destruktiven Populismus zugunsten von konstruktivem Populismus.

Forderung

Auch wenn ein komplexes und vollumfängliches Wahlprogramm für eine Regierungsbildung bestimmt von Vorteil ist und eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen den Parteien schafft, fordere ich zumindest eine Priorisierung mit konkreten Vorschlägen. Zum Beispiel:

I. Aufhebung des Steuergeheimnis

Es gibt ein öffentliches Interesse daran zu wissen, welcher Bürger welches Einkommen hat und wie er dieses versteuert. Um Ungleichheit, Steuerflucht und -vermeidung effektiv entgegenwirken zu können, müssen diese und deren Ursachen erst identifiziert werden. Es darf kein Recht auf Verschleierung finanzieller Abhängigkeiten geben.

II. Abgeordnete zu Transparenz verpflichten

Ein Bundes- oder Landtagsmandat ist eine Vollzeitbeschäftigung, bei der die Wahrung der Wählerinteressen immer im Vordergrund stehen muss. Beeinflussung, Korruption, Bestechlichkeit, Vorteilnahme und Interessenkonflikte müssen durch Transparenz für Spenden ab dem ersten Euro und ein öffentliches Lobbyregister entgegengewirkt werden. Jeder Bürger hat das Recht darauf zu erfahren, aus welchem Interesse seine Vertreter Entscheidungen treffen.

III. Erbschaftssteuer erhöhen

Finanzielle Ungleichheit manifestiert sich über Generationen und behindert die soziale Mobilität maßgeblich. Um die Ausgangsbedingungen der Bürger unabhängig von der sozialen Herkunft anzugleichen, müssen Erbschaften, die ein festzulegendes Volumen überschreiten, erheblich progressiver besteuert werden. Das ist ein Beitrag zur generationengerechten und nachhaltigen Chancengleichheit.

IV. Grunderwerbssteuer erhöhen

Spekulation mit Mietimmobilien fügt der Gesellschaft erheblichen Schaden zu. Mit Ausnahme für den Eigenbedarf muss die Grunderwerbssteuer so erhöht werden, dass kurz- und mittelfristige Anlagen in Immobilen unrentabel werden.

V. Branchenunabhängigen Mindestlohn auf 13 €/h erhöhen

Prekär Beschäftigte im Niedriglohnsektor können mit dem aktuellen Mindestlohn trotz Vollzeit (und Anstieg des Mindestlohns bis 2022) nicht immer ein würdiges Leben führen. 13 € ist die Untergrenze dessen, was eine Stunde Arbeit wert sein darf. Damit wird ein sozialer Mindeststandard gesetzt, der ein Leben mit gesellschaftlicher Teilhabe und ohne Armut ermöglicht.

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels, die bis zum 7.12.22 online war, habe ich 12 €/h Mindestlohn gefordert. Diese Forderung habe ich auf 13 €/h angeglichen.

Verschwörungspraktiker

Eigentlich hatte ich gehofft, dass das inflationäre Aufflammen von Verschwörungstheorien zu Anfang der COVID-19 Pandemie sich selbst überlassen von alleine erledigen würde. Ich glaube nach wie vor unverbrüchlich an die Räson der Menschen in diesem Land, auf diesem Planeten und damit so ziemlich an die der Menschheit allgemein. Allerdings hat sich dieser schon immer vor sich hinschwelende Brand neuerdings zu einem mittelschweren Waldbrand entwickelt. Neuerdings bekomme ich sogar aus meinem näheren Umfeld angetragen, dass dieser und seller wie auch immer gearteten Trugschlüssen und kruden Theorien aufsäße. Um mich dahingehend entschieden zu positionieren: Das finde ich nicht gut. Schon alleine Berichte von derartigem zu hören ist beunruhigend. Deshalb: Wie auch immer gearteten „alternativen Fakten“ auch nur Aufmerksamkeit zu schenken ist grundlegend falsch. Die einzigen, die sich gewinnbringend mit diesen beschäftigen können, sind Soziologen, die die Herkunft und Ausbreitung solcher Theorien studieren. Jetzt ist es aber nicht immer ganz einfach, Tatsachen von Verschwörungstheorien zu trennen. Gerade wenn die Hauptinformationsquelle soziale Medien sind, ist allein die Quantität der Meldungen erschlagend und man kann dem Unheil nur schwer ausweichen. Deshalb möchte ich mich hier damit beschäftigen, wie ich versuche tatsächliche Wahrheit von der dazu meist diametral stehenden „alternativen Wahrheit“ zu separieren. Sind beide Mengen orthogonal zueinander, ist das recht einfach, aber die Schöpfer solcher Theorien unterfüttern ihre Ansichten meist mit Wahrheitsfragmenten oder Halbwahrheiten um ihre Meinung glaubhaft zu machen.

1. Qualität vor Quantität

Wie bereits angedeutet, kann einen die Flut an Falschmeldungen auf Facebook, Twitter und Co. an schierer Quantität erschlagen. Online-Portale geben jedem die Möglichkeit seine Meinung kund zu tun. Bei ca. 32 Millionen deutschen Facebook-Nutzern hat gerade dieser Kanal eine große Reichweite. Die allermeisten Beiträge erweitern den öffentlichen Diskurs um eine weitere geschätzte Privatmeinung. Es gibt allerdings auch Nutzer, die statt einen gut recherchierten Beitrag lieber viele auf zumindest fragwürdiger Faktenlage basierende Beiträge veröffentlichen. Auch die sogenannte ‚Filterblase‘ kann dazu führen, dass Beiträge mit bestimmtem Inhalt inflationär angezeigt werden und damit überproportional präsent sind. Es fällt oft nur allzu leicht, sich einer Mehrheit anzuschließen, auch wenn diese nur künstlich ist. Das darf keinesfalls als Kriterium für den Wahrheitsgehalt genommen werden.

Es mag paradox wirken, dass ich gerade das empfehle, was oft als „wacht auf!“ an die „Systemschafe“ gerichtet wird. Allerdings maße ich mir an, damit eine leicht abgewandelte Aussage zu treffen; „Quantität ist nicht proportional zu Qualität“ – oft ist sogar das Gegenteil der Fall – statt „Glaubt nicht den anderen, glaubt mir, weil ich sage die Wahrheit“.

2. Glaubwürdige Quellen haben das reinere Wasser

Die vielen Stimmen auf sozialen Medien verbreiten ein Meinungs- und Stimmungsbild, das oft über einfache Heterogenität hinausgeht. Statt in der Flut aus sich gegenseitig widersprechenden Meinungen unterzugehen, lohnt es, auf Menschen zu vertrauen, die ihre Leben der Findung von Informationen und Wahrheit oder deren Darstellung gewidmet haben. Da aber nicht jeder, mich eingeschlossen, die Muße und Expertise hat, sich mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen, gibt es Journalisten, die versuchen, dieses Fachwissen für den ‚Normalbürger‘ zu übersetzen. Es ist nicht nur sinnvoll auf die Journalisten zu vertrauen, die bekanntermaßen unvoreingenommene und gute Arbeit machen, sondern auch deren Quellen können manchmal zumindest eingesehen werden. Ist die Quelle ein angesehenes wissenschaftliches Institut und die Plattform ein großes öffentliches Medium, dem bei Falschmeldung Vertrauensverlust und Gewinneinbußen drohen, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, hier eine belastbare Information zu erhalten. Bei privaten Bildungseinrichtungen, anonymen Social-Media-Accounts, Kanälen von Interessengruppen und kleinen, ausschließlich im Netz erscheinenden und selbsternannten Nachrichtenportalen ist Vorsicht geboten und die gegebene Information sollte zumindest sehr kritisch geprüft werden, ehe man sie in den eigenen Horizont aufnimmt.

Auch große Medien verbreiten nebst recherchierten und zusammengetragenen Informationen Meinungen. Diese sind aber fast immer als solche gut sicht-, hör- und lesbar gekennzeichnet und bedürfen der Interpretation des Konsumenten.

3. Überprüfbarkeit als Daumenmaß

Verschwörungstheorien können manchmal nicht direkt als Unwahrheit entlarvt werden. Unter anderem, da die Argumentation ihrer Anhänger einem Beteiligung daran oder Beeinflussbarkeit unterstellen. Außerdem sind die vermeintlichen Hintergründe der Theorien meist nur schwer oder garnicht überprüfbar, von niemandem. Oft sind das unmoralische Allianzen, geheime Bündnisse oder sinistre Absichten einzelner Mächtiger. Fragt man sich, wer das wann überprüfen könnte und ist der Schluss Niemand und niemals, dann muss der Theorie nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie wohl immer These ohne Beweis bleiben wird. Wie in einem Gerichtsprozess gilt auch hier: Indizien sind keine Beweise!

4. Ockhams Rasiermesser schneidet scharf

Verschwörungstheorien bieten meist eine alternative Erklärung zu real geschehenden Ereignissen. Dabei entsteht das Dilemma, dass diese Schilderungen nicht mit dem allgemein anerkannten Wissensstand vereinbar ist. Von der Theorie wird aber der monotheistische Anspruch erhoben, die einzige Wahrheit zu sein, an die geglaubt werden soll. Wem soll also vertraut werden? Dafür bietet Ockhams Rasiermesser ein probates Mittel. Das Prinzip heißt Einfachheit. Es sollten nur so viele Variablen in die Lösung gesteckt werden, wie notwendig sind um das Problem zu lösen, oder anders: Die einfachere Erklärung ist im Zweifelsfall der komplexen vorzuziehen. So ist es zum Beispiel einfacher zu akzeptieren, dass man auf der A2 die Ausfahrt Bielefeld schlicht verpasst hat, statt die Existenz der ganzen Stadt in Frage zu stellen.

Schlusswort

Bei allem, was ich in dieser Kürze zu diesem Thema geschrieben habe, möchte ich darauf hinweisen, dass meine Internet-Expertise auf keinen Fall das Fachwissen von Experten ersetzt. Wenn ich Bedarf sehe, behalte ich mir die Bearbeitung dieses Artikels vor. Dieser Beitrag soll im Idealfall eine Stütze für diejenigen sein, die Verschwörungstheorien ausgesetzt sind und Anhaltspunkte suchen, wie sie damit umgehen können.

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