Rede mit mir!

Manchmal ist der Einstieg in ein Thema einfach. Manchmal nicht. Also warum nicht mal so umständlich wie irgend möglich ins Thema einsteigen? Hier also mein geistiger Seitfallzieher vom Fünfmeterturm:

Millionen Jahre lang lebte die Menschheit wie die Tiere. Dann geschah etwas, das die Kraft unserer Phantasie freisetzte. Wir lernten zu sprechen und wir lernten zuzuhören. Die Sprache hat die Kommunikation von Ideen ermöglicht und die Menschen in die Lage versetzt, zusammenzuarbeiten und das Unmögliche zu schaffen. Die größten Erfolge der Menschheit sind durch Reden entstanden, die größten Misserfolge durch Nichtreden. Das muss nicht so sein. Unsere größten Hoffnungen könnten in der Zukunft Wirklichkeit werden. Mit der Technologie, die uns zur Verfügung steht, sind die Möglichkeiten unbegrenzt. Wir müssen lediglich dafür sorgen, dass wir weiter miteinander reden.

– Steven Hawking

Das Zitat habe ich aus dem Song „Keep Talking“, ein Song der Progressive Rock Band „Pink Floyd“. Steven Hawking sagt unter anderem, dass wir es uns nicht erlauben können, nicht zu reden. Und trotzdem beobachte ich genau das.

Also, über was reden wir hier? – Fallbeispiele

Zum Beispiel bei einem Tischgespräch mit Kollegen nach der Debatte zwischen Kamala Harris und Donald Trump Anfang September 2024. Auf offene Fragen kamen mehrfach eher ausweichende und kurze Antworten. Ich hatte ein Bekenntnis zur eigenen Meinung erwartet, aber sehr harmoniebedachte Positionen zur Meinungsfreiheit und Demokratie bekommen.

In einem anderen Gespräch hat mir ein Kollege von Ideen für eine Reform des Amerikanischen Wahlsystems erzählt. Auf meine Frage, warum er darüber nicht offen reden würde, meint er, dass Reden mit Gleichgesinnten nichts verändere und mit Andersdenkenden noch weniger. Also reden wir beim Essen weiter über Hunde, die Sportergebnisse oder das Wetter.

Auf der anderen Seite habe ich im Sommer eine Konversation einer Gruppe junger Menschen in Barton Springs, einem öffentlichen Schwimmbad in Austin, mitbekommen. Bis auf zustimmendes „Yeah man!“ und „Dude!“ aus der Gruppe, war es mehr ein Monolog eines ausgewachsenen Jugendlichen Anfang Mitte zwanzig über sein Dating-Leben. Nach 10 Minuten hatte ich immer noch nicht begriffen, was er mitteilen wollte.

Eine andere Art von Monolog habe ich auf dem „Texas Renaissance Fest“ beobachtet: Beiläufig beobachte ich eine Frau, die auf einen Typen einredet, der sich gerade an einer Hähnchenkeule erfreut. Sie meint, dass er rücksichtslos sei und ob er sich Gedanken über das Tier und das Klima mache. Und während ich selbst Vegetarismus unterstütze, habe ich mich gefragt, welches Ziel diese Frau mit dem unverhohlenem Angriff erreichen möchte.

Im Kontrast dazu genieße ich die Diskussion über politische Themen mit einem bestimmten Kollegen sehr. Kürzlich hatten wir eine angeregte Debatte über Demographie. Während ich die Meinung vertreten habe, dass ein natürlicher Bevölkerungsrückgang nachhaltig ist, hat er die Position vertreten, dass dadurch im gegenwärtigen Wirtschaftssystem wenige junge Menschen viele alte Menschen versorgen müssen.

Na, weil ich das so sage. – Emotional aufgeladene Debatten

In Diskussionen wie diesen sind wir grundsätzlich unterschiedlicher Meinung. Einer von nimmt aus Prinzip die Gegenposition ein. Und obwohl es nicht schick ist, lasse ich mich emotional mitreißen. Schnell habe ich den Stempel, nicht „sachlich“ zu sein und der Dialog kippt zum Streit.

Natürlich ist es toll, wenn man die Distanz beibehalten kann. Kann man nicht einfach Argumente und Gegenargumente vortragen, Punkte für die Argumente vergeben und am Ende einen zum Sieger küren, wie bei einem Boxkampf? Und dann geben sich beide die Hände, betonen wie sehr sie einander und die Konversation schätzen und das Thema wird geschlossen?

Ich glaube nicht, dass das für mich funktioniert. Ich bin emotional in den Debatten, deren Inhalt mich wirklich interessiert. Und wenn mich der Inhalt nicht interessiert, dann lasse ich die Debatte bleiben. Doof wird es, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, meinen Gegenüber zu verstehen. Auch wenn ich die Argumente nicht gutheißen muss, möchte ich sie nachvollziehen können. Schließlich möchte ich von jedem Gespräch etwas lernen. Verstehen, wie andere Menschen denken und warum sie so denken.

Ehrlicherweise ist mir das meistens nicht genug. Ich möchte meinen Gegenüber von meiner Position überzeugen. Eine neue Verbündete für meine Idee gewinnen. Denn schließlich habe ich ja Recht, oder? Meine Erfahrung ist eher, dass ich nicht richtig liege. Dass die Realität komplex ist und es selten einfache Antworten gibt. Und selbst wenn ich denke mehr zu sehen, ist es echt schwierig meinen Gegenüber dazu zu bringen, meine Perspektive einzunehmen. Vor allem unmittelbar in der Situation.

Was ist also der Sinn der Debatte, wenn ich nicht erwarten kann, dass jemand seinen Standpunkt ändert? Ich kann immer etwas lernen und meinen Horizont erweitern. Und statt eine neue gemeinsame Wahrheit zu finden, bin ich sehr zufrieden wenn wir beide die Möglichkeit haben, unsere Wahrheit zu hinterfragen.

Das wird man doch sagen dürfen! – Gesprächstaktik

Auch diese Ziele verfehle ich oft genug, weil einer von uns oder beide ganz schön stur sind. Was fällt den anderen auch ein, so überzeugt von ihren Weltbildern zu sein? Im 2024 erschienenen Film „Conclave“ sagt Kardinal Lawrence in einer Predigt zu den Kardinälen, die einen neuen Papst wählen sollen, aber in mehrere Lager gespalten sind: „Gewissheit ist der Feind von Einigkeit.“

Certainty is the enemy of unity.

Kardinal Lawrence, Conclave

Wie also die Gewissheit des Gegenüber aufweichen? Ich habe ein paar Strategien.

Mit wem rede ich?

Je besser ich meinen Gegenüber kenne, desto besser kann ich meine Argumentation anpassen. Das ist kein neues Konzept, sondern wird seit Jahrzehnten in der Werbeindustrie gelebt. Das Zauberwort ist „Zielgruppenorientierung“. Mit viel Empathie kann ich die Motivation meiner Zielgruppe erraten und meine Argumentation entsprechend Anpassen.

Dabei muss meine Zielgruppe auch nicht zwangsläufig meine Gesprächspartnerin oder mein Gesprächspartner sein. Der Ex-Freund einer engen Freundin hat eine starke politische Meinung, von der er allerdings durch kein Gespräch der Welt abzubringen war. Obwohl ich ihn nur schwer von meinen Ideen überzeugen kann, habe ich die Debatte immer wieder gesucht. Wenn wir diskutiert haben und sie zugehört hat, konnte sie Argumente von beiden Seiten hören und die Ansichten übernehmen, die am besten mit ihrem Weltbild vereinbar waren.

Das wäre zu viel gesagt.

Ein Stilmittel vieler Populisten ist die absichtliche Übertreibung. So behauptete die rechtspopulistische CSU 2017, dass durch den Familiennachzug viel zu viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden. Und während ich mich im Gespräch mit einem CSU-Wähler auf die Position zurückziehen werde, dass die CSU in diesem Falle rechtspopulistische Propaganda unterstützt hat, verfängt bei einem Teil meiner Zielgruppe die Aussage, dass man der bayrischen Splitterpartei der Christdemokraten nicht trauen kann.

Diese Strategie hat einen Preis: Darunter leidet meine Glaubwürdigkeit als Experte. Aber der geneigte Leser wird ahnen, dass ich gar kein Experte bin und dass das alles nur billiger Populismus ist. Ich möchte an dieser Stelle vom (übermäßigen) Gebrauch dieses Stilmittels abraten. Es untergräbt systematisch das Vertrauen ineinander und eine gesunde Debattenkultur.

Im Kontrast zu einer politisch korrekten und relativistischen Debatte über den Einfluss von Überreichen auf demokratische Prozesse finde ich ein plakatives „Eat the rich!“ dennoch greifbarer und manchmal zielführend. Man kann auch mal eine extreme Position in den Raum werfen um diesen für eine Debatte zu öffnen, ohne die Position verteidigen zu müssen. (Mehr dazu in meinem Artikel „Mehr sozialen Populismus wagen“ von 2021.)

Einfach mal „Danke!“ sagen.

Versöhnlicher ist es natürlich, den Gegenüber ein Punkt machen zu lassen, und sich vielleicht sogar für einen neuen Aspekt zu bedanken. Ich bin deutlich eher bereit, über die Position meines Gegenübers nachzudenken, wenn sie oder er mich mit Respekt behandelt. Außerdem verleiht ein „Danke“ direkt ein staatsmännisches Auftreten.

Im Gegensatz dazu ist es ein Pyrrhussieg, wenn ich die Debatte dominiere, sich danach aber niemand mit mir unterhalten mag. Wenn man es so formulieren mag, ist es besser die Schlacht zu verlieren, als den Krieg. Weniger martialisch ist zu betonen, dass es langfristig viel schöner ist, Gemeinsamkeiten zu finden über die man sich immer wieder verbinden kann. Die können auch ein Ausgangspunkt für weitere Gespräche sein. Und am Ende sitzen wir doch alle im selben Boot.

Memo an mich: Ich möchte in Zukunft öfter andere das letzte Wort haben zu lassen. Deshalb interessiert mich brennend, was Du als Leserin oder Leser von diesem Artikel hältst, welche Erfahrungen Du in Dialogen schon gemacht hast und welche deine Gesprächsstrategien sind. Ich freue mich über deinen Kommentar.

Was ich noch sagen wollte:

„Einigung Europas“ von mir

Eine Freundin hat mir die Rede „Einigung Europas“ von Stefan Zweig geschickt und mich gebeten, ob ich nicht einen Text dazu beitragen könnte. Diese Geste hat mich so gefreut, dass ich umgehend angefangen habe zu schreiben. Nicht nur, dass ich mich liebend gerne über Europa, dem Konzept der Europäischen Union und der europäischen Idee äußere, sondern auch, weil es mir viel bedeutet, gesehen und nach meiner Meinung gefragt zu werden.

Ich bin für zwei Jahre in Texas. Ein halbes ist fast rum und ich lerne echt viele Dinge. Offensichtliche Dinge wie, dass „conundrum“ „Rätsel“ heißt. Nicht ganz so offensichtliche Dinge, wie dass Verbraucherschutz und TÜV sehr europäische Ideen sind. Und auch Dinge, die sich mir erst langsam erschließen, wie dass eine Sozialisierung in der US-amerikanischen Gesellschaft eine völlig andere Kultur hervorbringt und dass ich mit meiner deutschen Sozialisierung mit jedem Schweden, Italiener, Portugiesen und Rumänen wahrscheinlich viel mehr gemein habe als mit einem US-Amerikaner.

Auch wenn es nicht immer so wirkt, haben wir bereits eine europäische Kultur. Wir haben Jahrhunderte gemeinsam verflochtener Geschichte, steinalte Kirchen, Fußgängerzonen, Sozialleistungen, den fantastischen Fernsehsender arte, öffentlichen Nah- und Fernverkehr, den eben schon erwähnten Verbraucherschutz, das Erasmus-Programm, Handball-Europameisterschaften und das Interrail-Ticket. Die Europäische Union ist der größte Markt der Welt und, auch wenn ich den Prozess als schleppend empfinde, sind wir dabei, Ökonomie, Ökologie und Sozialstaat miteinander zu vereinbaren. Europa hatte schon immer eine gemeinsame Geschichte und viel Wichtiger ist, dass wir vor allem eine gemeinsame Zukunft haben. Dem fanatischsten Faschisten ist bewusst, dass keine Alternative zu Europa vermittelbar ist.

Aber entgegen häufiger Darstellung sind Faschisten nicht dumm. Sie haben wie die Werbeindustrie gelernt unsere menschlichsten Empfindungen zu instrumentalisieren: Unser Selbsterhaltungstrieb, unsere Hormone und unsere Emotionen und Gefühle machen uns beeinflussbar. Deshalb wird es immer bequemer sein, eine gefühlte Realität mit biederem Familienmodell und überholten Wirtschaftsmodellen und eine romantische Verklärung der Vergangenheit mit biodeutschen Wurzeln und einem sorgfältig kuratierten nationalen Narrativ zu akzeptieren, als etwas zu verbessern. Auch, weil es einfacher ist, das Wetter, die Kollegen oder die Arbeit der Bunderegierung zusammen doof zu finden, statt sich gemeinsam für beispielsweise fahrradfreundliche Innenstädte, ehrenamtliche Vereinsarbeit oder Bürgerräte zu begeistern und einzusetzen.

Leider haben Faschisten mit Angst gegenüber vor Perspektivlosigkeit und Verfolgung Fliehenden und Stolz auf eine bestenfalls eigenwillige Geschichtserzählung besorgniserregend große Teile der Gesellschaft in emotionale Geiselhaft genommen. Obwohl soziale Parteien überlegene Ideen haben, sind Ergebnisse wie in Sachsen und Thüringen im September 2024 oft ernüchternd. Ich brauche keine rhetorischen Fragen zu stellen, um zu sehen, dass die Inhalte offensichtlich nicht so überzeugen. Dabei liegt es meiner Meinung nach nicht an den Inhalten selbst, sondern an einem seit der Aufklärung falschen Bild vom „rationalen Menschen“, der vernünftig und logisch entscheidet.

Ich lerne mich jeden Tag ein bisschen besser kennen und erkenne auch als studierter Ingenieur bei mir und meinem Mitmenschen: Da ist das allerwenigste rational. Oder auf vollständigen Informationen basiert. Oder vernünftig. Der Kollege, der seine Meinung mit Verweis auf seine Tabelle für „objektiv“ hält, reagiert sehr wahrscheinlich emotional. Sind wir beim Design unserer Demokratie davon ausgegangen, dass Menschen rational und vernünftig handeln? Dann sollten wir vielleicht unser Menschenbild aktualisieren.

Stefan Zweig hat das gesehen. All die großartigen Errungenschaften Europas sind schwer zu vermitteln, wenn wir sie nicht wertschätzen können. Was habe ich von CERN und die ESA bezahlt auch nicht meine Miete! Medien haben eine mächtige Rolle im Spiel um Deutungshoheit und unsere Emotionen. Emotionen sind Reichweite, Reichweite ist Deutungshoheit, Deutungshoheit ist Wahrheit.

Was wir tun können, ist unsere eigene Geschichte erzählen. Eine Geschichte, in der eine deutsche Ampel-Regierung mit Bürgergeld, Cannabis-Entkriminalisierung und Deutschlandticket mehr Dinge verbessert hat als 16 Jahre konservativer Stillstand. Eine Geschichte von einem Kontinent, der bei der Bekämpfung einer Pandemie erfolgreich zusammengearbeitet hat. Eine Geschichte von einer Wirtschaftsgemeinschaft, die durch ein gesellschaftszentriertes Weltbild eingesehen hat, dass nur ökologisches Wirtschaften nachhaltig die Versorgung aller sichert. Eine Geschichte, in der die europäischen Staaten, ohne zu eskalieren einen russischen Diktator nicht in seinem Angriffskrieg auf die Ukraine gewähren lassen.

Und ich möchte von einer Zukunft erzählen. Einer Zukunft, in der vereinte europäische Streitkräfte Werte wie Gleichheit und individuelle Freiheit hochhalten, abgestimmt handeln um Konflikte und Leid zu vermeiden und dabei den Austausch vieler Kulturen fördern. Ich möchte von einer Zukunft erzählen, in der Reisen mit der Bahn in ganz Europa unkompliziert, schnell, pünktlich, sicher und für jeden erschwinglich völlig normal ist. Ich möchte von einer Zukunft erzählen, in der wir Kindern und jungen Erwachsenen helfen, mit ihren Hormonen, ihren Emotionen und ihren Gefühlen umzugehen, sich darüber auszutauschen, statt sie hinter einer normativen und konformen Fassade wegzusperren. In der Hoffnung, dass Europa als Musterbeispiel dient und wir jeden, der mit uns lernen möchte, mit offenen Armen empfangen können.



Noch ein Artikel über Dunning-Kruger, Imposter-Syndrom, Intelligenz und Selbstwert

Ich arbeite für einen Halbleiterhersteller. Auch wenn der Sommer 2024 in Texas ziemlich heiß ist, ist der Markt für Halbleiter eher kühl. Einzig KI boomt und ich gehe davon aus, dass dieser Trend, der Anfang 2023 mit der Veröffentlichung von ChatGPT 3 begonnen hat, das neue Normal ist.

Ich beschäftige mich seit 2019 mit künstlicher Intelligenz. Dabei gibt es gar keine allgemein anerkannte Definition von Intelligenz. Ist ein Auto intelligent, das mit einem vorgegebenen Ziel navigieren kann? Wie schnell kann man einem Kühlschrank das Autofahren beibringen? Wie misst man die Qualität von „Autofahren“ und lässt sich das auf Flugzeuge übertragen? Kann ebenjener Kühlschrank ein autonomes Fahrzeug entwickeln? Kann der Kühlschrank sich selbst entwickeln, mit Toastern und Brotbackautomaten eine Küchengerätezivilisation formen oder sich eine Welt ohne Kühlschränke vorstellen?

Es gibt auf jeden Fall unterschiedliche Formen und Qualitäten der Intelligenz. Um die messen zu können, gibt es auch unterschiedliche Formen von Intelligenztests. Der Stanford-Binet-Test differenziert zum Beispiel das logische Denken, das Wissen, das quantitative Denken, die visuell-räumliche Verarbeitung und das Arbeitsgedächtnis. Nicht abgebildet, aber definitiv unabdinglich für das Funktionieren unserer Gesellschaft ist emotionale Intelligenz. Und ist Kreativität eine erlernbare Fähigkeit oder Intelligenz? Wahrscheinlich gibt es Aspekte der Intelligenz, von denen ich bisher nicht einmal weiß.

Täglich sehe ich die Ergebnisse menschlicher Intelligenz, lese davon in Büchern und wissenschaftlichen Artikeln (okay, zugegeben, meistens sind es Reddit-Posts). Ich höre Menschen, die mir einen Teil ihrer Geschichte erzählen. Oft genug bin ich nicht unmittelbar in der Lage zu erkennen, wie bewundernswert diese Menschen sind. Ich lebe mit meinen Vorurteilen in meiner eigenen Welt und erst im Nachhinein bin ich beeindruckt von der Intelligenz dieser Menschen: Es gibt so viele großartige Ideen in Wissenschaft und Technik, so viele außerhalb meiner Vorstellungskraft liegende Kunstwerke und so viele empathische und selbstlose Gesten.

Ganz bewusst will ich hier auf Beispiele verzichten, weil ich das als Wertung verstehe und unangebracht finde. Vielleicht hältst du als Leserin kurz inne und überlegst, welche großartigen Menschen dich zuletzt tief beeindruckt haben. Ganz gleich ob Uni-Prof, YouTube-Star oder langjährige Freundin.

Ich empfinde mich als Zwerg auf den Schultern von Riesen. Was mich auf der einen Seite mit Dankbarkeit und Demut erfüllt, lässt auf der anderen Seite meinen Beitrag unendlich klein erscheinen. Wer bin ich im Kontrast zu all diesen großartige Menschen? Dadurch, dass ich mich vor allem mit meinem Beitrag identifiziere, werde ich durch diese Skalierung auf einmal winzig klein und unbedeutend. Plötzlich habe ich keine Motivation mehr, etwas unbedeutendes beizutragen und alles was ich meine zu wissen und zu sein stelle ich in Frage.

Kann ich meine Intelligenz testen?

Selbstzweifel helfen mir, mich weiter zu entwickeln. Sie können auch hinderlich sein. Ironischerweise behindern sie mich vor allem bei meiner persönlichen Entwicklung. Selbstzweifel halten mich davon ab, mutig zu sein, etwas auszuprobieren, souverän im Gespräch mit anderen Menschen aufzutreten. Erkenne ich die Intelligenz der Menschen in meinem Umfeld, frage ich mich, was diese Menschen in mir sehen. Wenn ich nicht das Gefühl habe, etwas beizutragen, welche Intension könnte mein Gegenüber mit mir haben? Werde ich ausgenutzt, manipuliert? Nehme ich etwas nicht wahr, was mein Umfeld durchaus wahrnimmt? Zu viel Selbstzweifel können zu paranoiden Gedanken führen.

Unter der Annahme, dass Menschen bewusst, motiviert und rational handeln, gibt es so leider keine Möglichkeit die eigene Intelligenz zweifelsfrei zu testen.

Nehmen wir eine Maus in einem Labor. Sie ist aufgrund ihres Bedürfnisses nach Nahrung beeinflussbar. Deshalb kann man mit ihr Experimente durchführen. Findet sie einen Weg durch ein Labyrinth, wenn am Ende eine leckere Karotte wartet? Mit einer Belohnung kann man sie zu Kunststücken konditionieren. Können Mäuse rechnen? Muster erkennen? Können sie komplexe Verschlüsse an Futterboxen öffnen?

Experimente zeigen, dass die Maus im Käfig in der Erwartung einer Belohnung intelligent handeln kann. Aber sie kann nicht wissen, ob sie ihre Umwelt auf eine intelligente Art beeinflusst hat, um die Belohnung zu erhalten, oder die Umwelt sie beeinflusst hat, intelligent zu handeln.

Als Mensch bin ich durch meine Bedürfnisse genauso manipulierbar wie eine Maus. Wenn meine Umgebung mich also manipuliert, müsste sie das vor mir verschleiern. Wenn sich die Maus des Manipulationsversuchs bewusst wird, wird sie die Manipulation umgehen. Statt im Labyrinth zu laufen, kann sie auch auf den Wänden des Labyrinths viel schneller zum Ziel gelangen. Und plötzlich bietet mir Morpheus eine rote und eine blaue Pille an.

Solange mir diese Entscheidung nicht angeboten wird (und sogar, wenn mir diese Entscheidung angeboten wird), kann ich nicht widerlegen, dass meine Umwelt mich manipuliert. Ich habe keine Möglichkeit zweifelsfrei festzustellen, ob ich eigenmotiviert handele und aus mir selbst heraus intelligent bin, oder ob ich fremdgesteuert werde und jede intelligente Handlung von einer mir unbekannten Entität induziert wird.

Raus aus der Paranoia!

Folglich muss ich nun so handeln, als ob ich permanent manipuliert würde, oder? Abgesehen in von mit Handlungszwirblern gespickten Psycho-Thrillern, ist das weder hilfreich noch wahrscheinlich. Auch wenn wir mit Sicherheit permanent durch Werbung manipuliert werden, soll die vor allem unsere Kaufbereitschaft oder Wahlentscheidung fremdmotivieren. Allerdings können wir uns dieser Manipulation durchaus bewusst werden (und sollten das auch!) und es ist keine groß angelegte Verschwörung gegen uns.

Im direkten Kontakt mit unseren Mitmenschen fallen mir ab und an Interaktionen auf, die ich nicht richtig einordnen kann. Aber statt das auf eine bewusste, motivierte und rationale Manipulation zurückzuführen, sollte ich mich besser darin üben, ein ganzes Set von Rasiermessern anzuwenden. Oder um es mit den Worten von Alligatoah zu sagen:

Die Menschen sind nicht böse, die Menschen sind nur dumm.

Alligatoah – Musik ist keine Lösung

Wenn ich auf mich selbst schaue, versuche ich ein guter Mensch zu sein. Wie auch immer ich das definieren mag. Und trotzdem verletze ich viel zu oft unbeabsichtigt andere Menschen, weil ich mich ungeschickt verhalte oder etwas unbedachtes sage. Weil ich, obwohl ich mich für generell intelligent halte, dumme Sachen mache. So wie ich mir Vergebung und Nachsicht von meinen Mitmenschen erhoffe, möchte ich auch vergeben und nachsehen. Auch intelligente Menschen machen Fehler – ich sollte daraus lernen und sie nicht immer wieder machen.

Streben nach Unsterblichkeit

Mit ausgewählten Freund*innen habe ich diese Theorie diskutiert. Jetzt habe ich einen wunderbaren Anfang gefunden: Am Dienstag habe ich Cyberpunk 2077 das erste mal durchgespielt. Deshalb an dieser Stelle: Vorsicht! Spoiler-Alarm!

Während Generationen vor uns den Buchdruck, Radioübertragung, die Massenproduktion von Tonträgern und die Blütezeit der Filmindustrie erlebt haben, ist nun das Videospiel zweifelsohne die beeindruckendste kulturelle Entwicklung unserer Zeit. Cyberpunk ist ein herausragendes Beispiel für die Bearbeitung philosophischer und kultureller Fragen unserer Zeit. In diesem Kontext ist Cyberpunk 2077 gespielt zu haben, wie Schiller gelesen, Kraftwerk auf Langspielplatte gehört oder „Angst essen Seele auf“ im Kino gesehen zu haben.

Cyberpunk 2077 beschäftigt sich gleich mit mehreren soziokulturellen Fragen. Zum Beispiel wie wir mit technischen Verbesserungen am menschlichen Körper umgehen. Die alternativen Enden hingegen beschäftigen sich mit nichts weniger, als mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Je nachdem, wie man die Gabelungen im Schicksal des Hauptcharakters „V“ wählt, wird diese Frage anders beantwortet. Allen gemein ist meiner Meinung nach das mehr oder weniger erfolgreiche Streben nach Unsterblichkeit.

Der Tod, vor allem der eigene ist kein direktes Tabuthema, aber die Vorstellung irgendwann nicht mehr zu existieren ist so unvorstellbar, dass in meinem sozialen Kreis kaum darüber geredet wird. Ich ignoriere meine eigene Sterblichkeit meistens so gut es geht. Erst wenn nahe Verwandte sterben, werde ich schmerzlich an meine eigne Sterblichkeit erinnert. Wahrscheinlich haben Menschen deshalb verschiedene Strategien entwickelt, sich unsterblich zu machen.

Ewige Jugend

Ob Bäder in Milch, Jungbrunnen oder Drachenblut: Wir haben einen Kult um die Jugend etabliert, dem sich keiner entziehen kann. Wir wollen gesund sein bis ins hohe Alter, wollen keine kahlen Stellen auf dem Kopf und einen durchtrainierten Körper.

Nebst der Tatsache, dass es sich in einem gesunden Körper viel besser aushalten lässt und wir mit dem Alter eine Zunahme an Gebrechen verbinden, laufen wir mit jedem Tag, den wir älter werden, dem unausweichlichen ein Stück entgegen.

Das können wir allerdings vor allem durch die Unbestimmtheit unseres eigenen Todes gut verdrängen. Allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit zu sterben mit jedem Tag, den wir leben. Und wenn die Haut sich langsam in Falten legt, der Gang langsamer und der messerscharfe Verstand Stück für Stück durch Altersmilde verdrängt wird, wird es immer schwerer die eigene Sterblichkeit zu verleugnen.

Um die endgültige Perfektion herauszuschieben, gehen wir zum Arzt, trinken viel Wasser, essen das auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Super-Food, machen unser tägliches Workout, tragen Tagescremes auf, lassen uns ein Toupé anfertigen und ab und an ein bisschen Botox. Wann der gesunde Lebensstil zum Jungendkult oder sogar Jugendwahn wird, liegt im gelaserten und gelifteten Auge des Betrachters.

In Geschichten unsterblich

Wer im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, kennt Karl den Großen, den Vater des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Erzählungen konservieren nicht nur eine Vorstellung davon, woher wir kommen, warum manchen Dinge sind, wie sie sind, sondern beeinflussen unser Denken und Handeln. Damit sind Menschen nicht nur in ihren Handlungen, sondern auch in ihren Narrativen wirksam.

Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.

Berthold Brecht

Berthold Brecht hat es mit einem Satz auf den Punkt gebracht: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“ Erst, wenn sich keiner mehr an den Karl den Großen erinnern kann, es kein Geschichtsbuch mehr gibt, das seinen Namen in sich trägt, er wirklich vergessen ist, beeinflusst er nicht mehr das Weltgeschehen.

Als deutscher Staatsbürger ist mein Weltbild von einer ganz furchtbaren Geschichte geprägt: Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Welt von Menschen mit faschistischer Ideologie heimgesucht und verwüstet. Dabei wird das Narrativ derer, die diese Ereignisse maßgeblich beeinflusst haben, sicher von dem abweichen, was ich heute erzählen werde. Sie standen auf einer anderen Seite der Geschichte. Erst meine Erzählung fügt eine Wertung hinzu. Auch sie sind auf ihre Art und Weise unsterblich.

Es gibt immer Menschen, die Geschichten erzählen. Und darunter gibt es auch heute gefährliche Narrative. Erzählungen von Überlegenheit und Stärke, von Ansprüchen aus Tradition, von Vergeltung und von selbsternannten Opfern, die zurückfordern, was ihnen zustünde.

Die Verbreitung von Erzählungen hat einen Einfluss. Welche Geschichten ich wem und wie erzähle verändert Denken und Handeln. Deshalb möchte ich die Geschichten reflektieren, die ich erzähle. Ich möchte Narrative bewusst und mit einer Intension verbreiten.

Dazu eine Idee aus einem Reddit-Post: In welchem Kontext wird dein Name das letzte mal fallen? Mit was verbindet dich der Mensch, der das letzte mal an dich denkt?

Meine Kinder sind ein Teil von mir

Auch wenn wir uns als rational darstellen, sind wir als Lebewesen auf Arterhaltung programmiert. Unsere Sexualität und der Impuls uns fortpflanzen zu wollen sind fest in uns verankert. Hormone steuern unsere sexuelle Entwicklung, beeinflussen unser Verlangen nach Sex, die Freude daran, Schwangerschaft und Bindung zum Kind. Wir entscheiden uns nicht für oder gegen unsere Sexualität und suchen sie uns auch nicht aus.

Es ist manchmal schwierig unsere Biologie mit unserer Ratio zu vereinbaren. Insbesondere die Narrative um unsere biologische und sexuelle Identität, zum Beispiel Ethnozentrismus oder Homo- und Transphobie, verstehe ich als Versuch, diesen unbeeinflussbaren Teil von uns zu erklären und zu kontrollieren. Ich muss die Narrative nicht gut finden, kann sie aber nachvollziehen.

Wir wollen für unsere Nachkommen die besten Voraussetzungen schaffen und die besseren Gene oder den leistungslosen ökonomischen Aufstieg weitergeben. Schließlich lebt in unseren Kindern ein Teil von uns weiter.

Ideen sterben nicht

Eine Beobachtung, eine Abstraktion, ein Konzept und ein Modell sind sehr beständig. Newtons Beschreibung der Schwerkraftwirkung und Einsteins Modell von Raumzeit überdauern beide.

Während Geschichte vom Standpunkt des Erzählenden abhängt, sind die Erkenntnisse von Newton und Einstein allgemeiner. Wissenschaft hat zum Ziel allgemeingültige Zusammenhänge zu finden, zu überprüfen und für andere zugänglich zu machen.

Damit haben wir Menschen einen evolutionären Vorteil: Während die Natur auf den Zufall warten muss, bis sie eine vorteilhafte Mutation weitergeben kann, können wir den Generationen nach uns unsere Erkenntnisse zur Verfügung stellen. In der Hoffnung, dass sie die Experimente nicht wiederholen muss, aus dem Wissen ihren Vorteil ziehen kann und das Erbe mit neuen Erkenntnissen anreichern kann.

Im Namen von Ideen können wir aber auch Schaden anrichten: Wenn ich mein Wissen nicht hinterfrage, wird daraus schnell unreflektierter Glauben. Wenn ich meine Ideen anderen aufoktroyiere statt anzubieten, wird daraus ideologische Missionierung. Wenn es mehr um mich, als um die Idee geht, beschädige ich die Glaubwürdigkeit der Idee.

Wenn wir eine originäre Idee uneitel weitergeben, können wir über unser Leben hinaus unsere Gesellschaft beeinflussen.

Die Prämisse der unendlichen Gesellschaft

Eines haben die Erinnerung in Geschichten, die Weitergabe unserer Gene und das Bereitstellen von Ideen gemein: Es muss jemand da sein, der die Geschichten erzählt, der die Kinder aufzieht und der die Ideen versteht. Wir alle sterben mit dem letzten Menschen, der sich an uns erinnert, der Kinder haben möchte und der unser Wissen weiterträgt.

Ich habe hier die Existenz einer Gesellschaft vorausgesetzt. Darf ich das? Unter welchen Umständen kann eine Gesellschaft überdauern? Und was kann ich dazu beitragen, dass meine Gesellschaft lebenswert wird und bleibt?

Fünf Dinge, die mir in den USA gefallen

Nach einem holprigen Start in den USA möchte ich dieses Land mit seinen herausragend positiven Seiten darstellen: Es gibt Dinge, die mir in Austin sehr gut gefallen. Und die möchte ich mit euch teilen. Nicht nur weil ich einfach unglaublich gerne teile, sondern auch als Anregungen, was wir in Deutschland noch besser machen könnten.

Apartment-Komplexe mit Fitnessstudio und Aufenthaltsbereichen

Zum Glück zahlt meine Firma meine Miete, sonst könnte ich mir eine Wohnung im Quincy, Austin absolut nicht leisten. Aber es gibt auch erschwinglichere Apartment-Komplexe, die Annehmlichkeiten bieten. Ganz typisch sind Fitnessstudio, ein Pool und ein Aufenthaltsbereich mit Kaffeeküche. Bei mir sind zum Beispiel auch Arbeitsbereich und ein Fahrradraum dabei.

Das Fitnessstudio im Apartmentkomplex bietet gleich mehrere Vorteile: Das niederschwellige Angebot hilft ungemein die eigene Bequemlichkeit zu überwinden. So kann man auch spontan, zum Beispiel vor oder nach der Arbeit mal eine Runde laufen gehen.

Darüber hinaus sind nur Mieter des Komplexes hier. Deshalb ist es meistens nicht so voll. Außerdem, und das fällt mir etwas schwer zuzugeben, finde ich es angenehm einen sozialen Mix zu haben. Ich habe mich in der testosteronschwangeren Atmosphäre meines Fitnessstudios in Dresden oft unwohl gefühlt. Ich fühle mich ein bisschen besser, wenn ich nicht der einzige „Lauch“ in der Muckibude bin. Schließlich möchte ich mich fit halten und nicht meine kostbare Zeit in Bodybuilder-Aspirationsfantasien investieren.

Die verbringe ich lieber in den Aufenthaltsbereichen. Die sind oft wohnlich möbliert und mit weiteren Annehmlichkeiten, wie Billardtischen und Bluetooth-Lautsprechern ausgestattet. Das allerbeste daran ist allerdings, dass man sich hier mit Freunden oder alleine aufhalten kann ohne etwas konsumieren zu müssen. In diesem hyperkommerzialisierten Land ist dieser Rückzugsort für mich unglaublich wertvoll. Fun-fact: Diese Liste entsteht gerade im Aufenthaltsbereich meines Apartmentkomplex.

Perfekt gepflegte National Parks

Auf meiner „Bucket-List“ steht der Besuch der US National Parks ganz oben. Mit einem lieb gewonnenen Freund habe ich kürzlich drei Parks besucht: Guadalupe Mountains, White Sands und Carlsbad Caverns.

Es ist eine stundenlang Fahrt durch eine wüste Ebene (oder ebene Wüste?), deren höchste Erhebungen die ikonischen Ölbohrtürme sind, bis man von Austin aus diese National Parks erreicht. Das und die wohl schlechteste Pizza aller Zeiten aus einem Pizza Hut in Pecos sind es aber allemal Wert.

Wenn man auf dem McKittrick Trail im Guadalupe National Park läuft, findet man keinen weggeworfenen Zigarettenstummel an den Wegrändern. Wenn man durch den weißen Sand von White Sands läuft, ist trotz der vielen Besucherinnen und Besucher keinerlei Verpackungsmüll im Sand vergraben. Und in Carlsbad Caverns brechen sich trotz der immensen Größe Touristen keine Souvenire aus den Stalagmiten1.

Einen National Park zu besuchen ist ein bisschen wie das Betreten einer heiligen Stätte. Es ist ein Sakrileg, diese Tempel der unberührten Natur mit seinem Abfall zu entehren. Ich habe mich kaum getraut, einen Apfelbutzen in einen Busch zu werfen.

Was das Erfolgsrezept der amerikanischen Nationalparks ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Sicher sind die atemberaubende Natur, ausreichende finanzieller Unterstützung und eine gelungenen Öffentlichkeitsarbeit essentielle Bestandteile.

1 Stalagmiten sind die Säulen, die nach oben wachsen. Stalaktiten wachsen nach unten. Meine neu gelernte Merkregel: Das m ist nach oben gewölbt, das t nach unten.

Anti-Diskriminierungstrainings

Zur üblichen Onboarding-Prozedur gehört auch, dass mir gleich zu Beginn eine ganze Stange an Trainings zugewiesen wird. Darunter war auch ein obligatorisches „Anti-Diskriminierungstraining“, das ich so lange aufgeschoben habe, wie es ging. Aus Deutschland bin ich gewohnt, eine Online-Präsentation durchzuklicken und am Ende zehn bis fünfzehn super spezifische aber wenig verständnisfördernde Fragen zum Training zu beantworten.

Auch wenn das Training hier nicht an den Säulen „online“, „durchklicken“ oder „Abschlusstest“ rüttelt, gibt es hier Videos, die den Inhalt plastisch vermitteln. Die Fragen zur Überprüfung des Lerninhalts ergeben sogar Sinn und wirken nicht aus der Luft gegriffen.

Darüber hinaus ist es allerdings weit mehr als dieses Training. Die gesamte Kultur legt sehr viel Wert darauf, diskriminierungsarm zu sein. Die mangelnde Reflektion, die ich vielen Amerikaner*innen bei Umweltbewusstsein und Politikverständnis vorwerfe, wäre bei der Inklusion definitiv unangebracht.

Es scheint auf den ersten Blick paradox, dass das Land des Individualismus mit einer sehr ungleichen Gesellschaft so viel Wert auf Gleichbehandlung legt. Vielleicht ist es gerade das öffentliche Bekenntnis zur Gleichbehandlung, das diese Gesellschaft mit sehr ungleichen Ausgangsbedingungen zusammenhält. Mit Sicherheit ist es eine Folge der soziopolitischen Entwicklung der Vereinigten Staaten.

Begehbare Wandschränke

Kleiderschränke nehmen Platz weg, bei jeder Bewegung brechen Rückwände heraus und egal wie man den Schrank platziert entstehen schwer zugängliche Ritzen, in denen sich der Staub sammelt. Vielleicht hat man auch einen schönen, alten Kleiderschrank, der sich aber schlecht mit den anderen Möbeln kombinieren lässt. Oder man stellt sich einen super teuren Einbauschrank nach Maß zusammen, den man dann aber beim nächsten Umzug nicht mitnehmen kann.

Deshalb bin ich ein designierter Fan von begehbaren Kleiderschränken. Seine Klamotten und auch anderen Krempel hinter einer Wand zu verstecken ist so naheliegend wie genial. Der Platz für den begehbaren Kleiderschrank würde ohnehin durch einen Kleiderschrank eingenommen werden und so hat man statt einer Schrankfront lediglich eine Wand, an der man ein Bild oder ein Regal platzieren kann.

Ich behaupte, dass sich beinahe jede Wohnung problemlos nachrüsten und aufwerten lässt. Für den Preis eines großen Wandschranks lässt sich eine Trockenbauwand mit Gipskarton einziehen. Verputzen, Tapete drüber, einen Teppich und eine Kleiderstange rein und fertig ist der perfekte Stauraum. Das wird auch jede Nachmieterin liebend gerne übernehmen!

Dachterrassen

Es gibt Plätze, die sollten für die Allgemeinheit zugänglich sein. Dazu gehören Parks und Wälder. Leider gibt es von beiden in Austin nicht ausreichend.

Dafür gibt es reichlich Dächer. Ganz egal, ob es der private Apartmentkomplex, das Bürohochhaus oder das Hotel in der Innenstadt ist: Der schönste Ort, die Dachterrasse, ist zugänglich.

Um dem Lärm der Häuserschluchten und der Straßen zu entgehen ist nichts naheliegender, als auf das Dach zu flüchten. Insbesondere wenn die Stadt in der Nacht leuchtet, ist ein kaltes Getränk beim Beobachten der sich bewegenden Punkte und Formen weiter unten beruhigend. Es hat etwas meditatives, in die Weite zu starren und die Gedanken schweifen zu lassen.

Der milde Wind dämpft den Lärm. Aus der Distanz des dreißigsten Stockwerks verschwimmen graue Details. Über sie erhaben wird auch die Betonwüste mild und gnädig.

Bonusmaterial

Oft ist es nicht, dass es mir nicht positiv auffällt, sondern dass ich mir zunächst gar nicht bewusst bin, dass das auf die Liste gehört. Deshalb muss ich diese Liste erweitern. Ich hoffe sehr, dass ich sie immer wieder erweitern kann.

  • Einbauküchen die zur Wohnung gehören: Ich meine, wer kommt auf die Idee „Lass mal diese maßgefertigte Küche für diese Wohnung in eine neue Wohnung umziehen, wo sie nicht reinpasst!“?
  • Peanut Butter filled Pretzels: Erdnussbutter in einem Kissen aus Laugenstangenteig. Health nerf, addiction buff.
  • Drain Weasle: Ein langer, flexibler Plastikstab mit Widerhaken am Ende, mit dem man Haare aus dem verstopften Ausguss gefischt bekommt. Gibt’s für ca. $1 im HEB und ist tausendmal effektiver als Rohrreiniger.
  • River Floating: Sich mit Freunden und Kaltgetränken in einem aufblasbaren Ring einen Fluss heruntertreiben lassen.
  • Dr. Pepper Zero: Sehr süß, in kleinen Dosen, am besten gekühlt und mit präsentem Vanillegeschmack.

Land of the scam

Ich habe lange zweieinhalb Jahre darauf hingearbeitet im Ausland arbeiten zu dürfen. Im September 2023 wurden die Pläne konkret und ich habe mich sehr gefreut, für zwei Jahre nach Austin, Texas gehen zu dürfen. Seit Ende März 2024 bin ich jetzt in Austin, habe meinen ersten Monat hier gelebt, meinen 30. Geburtstag hier gefeiert und meine ersten Erfahrungen gemacht.

Vor allem habe ich mich mit Abendveranstaltungen, einem (absolut notwendigen) Auto und einer Wohnung beschäftigt. Meine ersten Eindrücke von Austin, Texas sind gelinde gesagt nicht die besten. Um die Pointe vorweg zu nehmen: Das hier wird ein Rant auf eine Gesellschaft, die unproduktiv, unehrlich, faul und gierig ist. Wohlwissend, dass ich damit vielen Amerikaner*innen unrecht tue. Deshalb möchte ich gleich vorab die Amerikaner*innen in Schutz nehmen, die mich warm und ehrlich mit offenen Armen empfangen.

Scam #1: Tickets

Eine liebe Freundin mit einem hervorragenden Kulturgeschmack hat mich darauf hingewiesen, dass die Band „Giant Rooks“ nach Austin kommt. Ich beschließe an einem Freitag, dass ich mir Tickets für das Konzert am 4. Mai (Star Wars Tag!) kaufen werde. Im Internet werde ich auch schnell fündig. Da gibt es die Seite TicketsOnSale.com. Ich suche kurz, es gibt die Tickets für $40! Das ist für Konzerte hier ein adäquater Preis. Also lege ich zwei Tickets in den Warenkorb und möchte bezahlen. Es ist alles sehr „convenient“. Ich kann mit Apple Pay direkt vom Handy aus zahlen, muss keine Kreditkarte angeben, sondern nur zweimal auf einen Knopf drücken und mein Gesicht in die Kamera halten.

Mir bleibt kurz der Atem stehen, als ich auf einmal $134 auf der Rechnung sehe. Das sehe ich natürlich erst, nachdem ich bezahlt habe. Ich denke mir, dass da ein Fehler vorliegt, aber nein. Die Seite ist bekannt, stark überhöhte Service-Gebühren zu verlangen. Und ich bin darauf reingefallen. Ich schäme mich.

Ich schaue in meine Mails und versuche den Kauf, wie in Europa mit üblichen 30 Tagen Rückgaberecht, rückgängig zu machen. Das geht nicht, der Kauf ist „final“. Das heißt, ich kann nichts umtauschen. Der Gipfel der Dreistigkeit ist, dass ich ab sofort Werbemails bekomme, ob ich denn nicht noch ein Hotel buchen möchte und ob ich denn zufrieden sei. Ich entschließe mich eine sehr sehr schlechte Bewertung abzugeben und bei der Hotline anzurufen. Natürlich geht nur ein Bot dran, der mit erklärt, dass diese Service-Gebürhen für ihren „premium Service“ fällig werden. Zum Beispiel für die Wartung der Website. Aha.

Ich versuche es positiv zu sehen. Halb so schlimm. Immerhin sind die Tickets echt. Diese Lektion hat mich $50 gekostet. Ärgerlich, aber ok.

Scam #2: Auto

Natürlich kaufe ich kein Auto von einem Privatmenschen. Dafür kenne ich mich zu wenig mit Autos aus. Ich gehe zu einem gut bewerteten Autohaus. Roger Beasley Mazda South. Die nennen sich den größten Mazda-Händler in Nordamerika. Auf der hochglanz-Website findet man Motivationen wie „Fairer Deal“ und „Ehrlichkeit“. Das klingt doch seriös.

Beim ersten Auto, das ich ausprobiere, ist die Motorkontrollleuchte an. Ich reklamiere das, es kommt ein anderer Verkäufer dazu und meint, dass ihm das unangenehm wäre, denn wenn sie sowas feststellen, zeigen sie solche Autos ja eigentlich keinen Kunden. Dann schauen wir uns einen Mercedes E350 aus dem Jahr 2009 an. Ein sehr gepflegtes Auto. Ich bin hin und weg. Wir machen eine Probefahrt, die Bremsen funktionieren gut, der Motor klingt gut, ist nicht gewaschen und leckt nicht. Ich reklamiere allerdings ein seltsames Geräusch, das beim Fahren, insbesondere bei höherer Geschwindigkeit auftritt. Ich frage mehrmals, was mit dem Auto falsch ist und was das für ein Geräusch gibt, wobei mir beide Verkäufer versichern, dass „das ein gutes Auto“ sei und dass „es sehr gut fahren würde“ und der nur $7000 wegen der vielen Meilen kosten würde. Außerdem haben sie ja gerade eine „Safety Inspection“ durchgeführt. Wirklich nur 3 Tage vorher.

Ich kaufe das Auto ein paar Tage später, nur um auf dem Weg vom Händler nach Hause von den seltsamen Geräuschen so verstört zu sein, dass ich einen Termin mit einer unabhängigen Werkstatt mache. Ich habe das Auto keine 100 Meilen bewegt, als ich es in die Werkstatt bringe. Der Checkup sollte nur einen Tag dauern. Noch am selben Tag erfahre ich später Abends, dass das Radlager ausgeschlagen ist, Befestigungsbolzen am Rad fehlen, die Servolenkung leckt und eine Getriebewartung für 70k (ca. 112km) Meilen nach 150k (ca. 240km) Meilen immer noch nicht gemacht worden ist. Der Spaß soll mich $2700 kosten. Ich willige ein, denn mit diesem Sicherheitsrisiko möchte ich nicht zurück auf die Straße. Wenn es das ist, bin ich damit zufrieden. Es ist für mich höchst unbegreiflich, wie dieses Auto die angebliche „Satefy Inspection“ passieren konnte, aber gut.

Zwei Tage später werde ich wegen „einem seltsamen Geräusch“ nochmal einen Tag vertröstet und wiederum einen Tag später kommt die Hiobsbotschaft: Das Differenzial ist bald hinüber und der Tausch kostet $5000. Die Werkstatt meint, dass Roger Beasley das hätte merken müssen, wenn sie sich das Auto überhaupt mal angeschaut hätten. Ich bin kurz vor einem Nervenzusammenbruch: Ich soll insgesamt $8000 in ein Auto stecken, für das ich $7000 gezahlt habe, nur damit ich damit fahren kann? Ich fahre zu Roger Beasley und stelle den Verkäufer zur Rede. Ich habe ja das Auto „As-Is“ gekauft und deshalb muss ich jetzt selbst damit klarkommen. Und die Inspektion? Die haben sie sicher durchgeführt, aber das sei eigentlich nur eine automatische Verlängerung vom System. Was ist mit den falschen Hinweisen beim Verkauf? Die Verkäufer von Roger Beasley würden nie die Unwahrheit behaupten.

Ich tauche mindestens 5 mal bei Roger Beasley auf und stelle den General Sales Manager zur Rede. Das einzige, was ich für mich rausholen kann ist ein Tausch des Mercedes zum Kaufpreis gegen einen Mazda 3 mit 80k Meilen und ich darf noch $5000 draufzahlen. Ich bin nicht zufrieden mit dem Handel, es ist eher eine Vernunftentscheidung. Ich bin traurig, wütend, habe viel Geld verloren und Flashbacks an meine Studententage mit existenziellen Ängsten kommen hoch.

Diese Lektion hat mich mindestens $3000 gekostet. Wahrscheinlich eher $7000, wenn ich den Wert des Mazda 3 betrachte. Ich merke übrigens auch hier erst beim Fahren vom Händler, dass die Reifendruckkontrollleuchte auf einmal anspringt und dass mindestens ein Lautsprecher nicht funktioniert.

Scam #3: Wohnung

Ich brauche eine Wohnung. Bald, schön und im Budget, das mein Arbeitgeber zahlt. Aber für $2600 sollte sich doch was finden lassen. Ich suche sorgfältig die Rainey Street ab. Hier gibt es viele High-Riser, es ist nahe der Innenstadt mit Nachtleben und auch die Firma ist erreichbar. Außerdem ist ein lieber Kollege hier gerade hingezogen.

Also suche ich in der Nähe und werde auch beim „the Quincy“ fündig. Ich bin vor allem von den Annehmlichkeiten überzeugt: Der Co-Working-space ist sehr schick, die Dachterrasse hat einen schönen Blick und am Pool sind viele junge Menschen. Ich entscheide mich für ein Apartment hier, weil es einfach der beste Deal ist.

Allerdinge entscheide ich mich für ein anderes Apartment als das, das ich bisher angeschaut hatte. Ich fange ungesehen mit dem Bewerbungsprozess an, da ich mir sehr sicher bin. Der freundliche junge Mann von der Apartment-Tour gibt mir anfangs Anweisungen, wie ich das mache: Am besten auf der Website. Ach so – man muss noch vor dem Start des Bewerbungsprozesses eine nicht rückerstattbare „Application Fee“ von $450 zahlen.

Unterdessen kündigt mir das Umzugsunternehmen freudig an, dass meine Pakete angekommen sind und wann sie mir die zustellen können. Ich sage, der 27. April wäre hervorragend, aber sie antworten, dass sie an Samstagen leider nicht arbeiten. Also muss ich wohl einen Tag eher, am Freitag, den 26. April einziehen.

Knapp eine Woche nach Bewerbungsstart nutze ich die Besichtigung meiner neuen Wohnung um den jungen Herrn darum zu bitten, meinen Vertrag einen Tag eher, am Freitag, den 26. April beginnen zu lassen. Seine Antwort ist, dass das kein Problem sei, schließlich stehe die Wohnung ja ohnehin leer.

Nach eineinhalb Wochen erkundige ich mich am Montag nochmal, ob der Mietvertrag nun da sei. Schließlich möchte ich am Freitag einziehen. Der junge Mann bedankt sich für den Hinweis und beteuert, sich sofort darum zu kümmern. Was ich bekomme, ist eine Kopie meines Bewerbungsformulars, eine Aufforderung binnen 24 Stunden einen Kautionsnachschuss von über $1000 zu bezahlen und den Zugang zu einem Online-Portal, auf dem ich erstmal meine Miete bezahlen soll. Mindestens 7 Tage vor Einzug – technisch schon jetzt unmöglich.

Zu allem Überfluss geht es mir am Montag Abend rapide sehr schlecht. Einer meiner beiden Tests aus Deutschland bestätigt: Corona. Mist! So ist meine Handlungsfreiheit weiter eingeschränkt.

Es ist Dienstag und mir geht es echt reudig. Ich fühle mich kaum in der Lage, etwas zu tun. Aber Abends bekomme ich den Mietvertrag. Ich sende die ersten Seiten des online zu unterschreibenden Mietvertrages an meine lokale Betreuerin. Sie lässt den Mietvertrag von Fachpersonal prüfen, denn sie weiß; wir sind in den USA und Gott alleine weiß, was in den Geistern der Menschen hier vorgeht, wenn sie Verträge aufsetzen. Ich erinnere mich unwillkürlich an meine Schulzeit: Ich habe mir mit rigorosen „Verträgen“ einen Teil des Pausengelds meiner Mitschüler*innen gesichert. Da war ich 12. Ich bin nicht stolz darauf.

Am Mittwoch bekomme ich Rückmeldung meiner Beteuerin: Der Mietvertrag ist überprüft und für in Ordnung befunden. In dem stehen neben Fristen, die ich schon technisch garnicht mehr einhalten kann auch das Einzugsdatum: Samstag, der 27. April 2024. Ich bin teils verwundert, teils argwöhnisch. Ich unterzeichne alles und schreibe dem Team. Keiner meldet sich.

Donnerstag. Ich gehe raus, obwohl ich Corona habe. Nachmittags bin ich bei meiner neuen Wohnung. Eine Kollegin von dem jungen Mann erzählt, dass der wohl Urlaub hat und deshalb nicht antwortet. Aber sie wird mir weiterhelfen. Ich erzähle ihr von meiner mündlichen Vereinbarung mit dem jungen Mann, sie meint, dass sie um das Umzugsdatum zu ändern den Mietvertrag neu aufsetzen müsse und das gegebenenfalls die Miete ändern würde. Ich sage ihr, dass es mir ziemlich egal ist, wie wir das lösen. Ich will nur, dass mein Zeug morgen geliefert werden kann. Sie setzt einen neuen Mietvertrag auf, lächelt und meint, dass sich der Preis nicht geändert habe. Ich gehe mit dem guten Gefühl, das Problem gelöst zu haben. Zuhause möchte ich den Vertrag unterschreiben und entdecke, dass da auf einmal $2700 Miete drinnen steht, statt der ursprünglichen $2450. Für 13 Monate! Also soll ich ca. $6000 zahlen, damit ich einen Tag früher einziehen kann? Morgen? Viel Zeit zum verhandeln bleibt ja nicht. Selbst der schwäbischste Großgrundbesitzer in Berlin ist flexibler mit Einzugsterminen und nicht so dreist mit den Mietforderungen! Ich bin am Boden zerstört.

Am Tag meines Einzugs fahre ich nochmal zu dem Apartment und treffe dieselbe Frau. Ich erzähle ihr, dass ich auf garkeinen Fall $6000 bezahlen werde um einen Tag früher einzuziehen und hole den gültigen Vertrag raus. Sie entschuldigt sich, und passt das nochmal an. „Jetzt stimmt’s aber!“ Nein – es stehen jetzt $2575 auf dem Vertrag. Den schickt sie mir noch einmal, bis sie den Fehler in ihrer Berechnung findet. Endlich steht der richtige Preis drinnen. Oberflächlich bin ich freundlich. Darunter brodelt es und ich bin höchst skeptisch.

Immerhin habe ich eine Wohnung. Der Preis ist hoch. Auch emotional. Aber diesmal war ich aufmerksam. Es ist ein Pyrrhussieg. Denn ich habe massiv Vertrauen verloren.

Zu guter Letzt

Ich lerne zu schätzen, was ich an Deutschland und Europa habe. Menschen, die nicht darauf angewiesen sind, alles verkaufen zu müssen, was nicht niet- und nagelfest ist, um sich ernähren zu können. Menschen, die eine Tätigkeit gelernt haben, darin ausgebildete Fachkräfte sind und nicht nur die besten Blender, die man für günstig Geld von der Straße auflesen konnte.

Meine ersten Eindrücke sind ernüchternd. Das „Land of the free“ ist das Land der unbegrenzen Unmöglichkeiten.

Ich hatte viel Pech mit den Leuten und Dingen, die mir widerfahren sind. Ich werde positiv in die Zukunft sehen und meine Augen für das schöne offen halten. Aber ich möchte diesen Artikel auch als Warnung sehen, nicht zu naiv in die USA zu gehen. Was oberflächlich nach Freundlichkeit aussieht, ist oft nur eine Verkaufsabsicht.

Oh, wie schön ist Klaipėda

Was ich mir während des Studiums nicht leisten konnte und was vergangenes Jahr aufgrund der pandemischen Lage nicht möglich war, habe ich dieses Jahr nachgeholt. Fast drei Wochen lang habe ich mir die Zeit genommen um Polen, Litauen, Lettland, Schweden und Dänemark zu erkunden.

Der beste Kompromiss aus Abenteuer und CO2-Impact, aus Flexibilität und Verlässlichkeit war dabei mein Motorrad. Meine Suzuki Bandit hat mir auf der 3920 km langen Strecke treue Dienste erwiesen und mich sicher und heil durch alle Widrigkeiten getragen.

Mitgebracht habe ich neue Erfahrungen, wunderbare Eindrücke, schöne Bilder und viele Geschichten, von denen ich ein paar zum Besten geben mag.

Warschau – Ob Sozialismus oder Kapitalismus, Hauptsache Beton

Begonnen hat meine Reise Anfang August in Dresden. Temperaturen über 30°C und die allgegenwärtige Sonne waren stete Begleiter auf dieser Strecke. Bis zu einer Mittagsrast in Łódź habe ich diese erste Etappe vorwiegend auf der Autobahn verbracht. Ab hier habe ich mich durch den Feierabendverkehr nach Warschau auf den Landstraßen (pol. Droga krajowa) 14 und 92 bewegt.

Aufgefallen ist mir, dass in Polen das Auto das Fortbewegungsmittel der Wahl ist. Das Verkehrsaufkommen ist dementsprechend hoch. Die Landstraßen sind zwar zweispurig, jedoch ausreichend breit gebaut mit einem fast durchgängigen Standstreifen. Einige Polen, die mich als Motorradfahrer im Rückspiegel gesehen haben, haben diesen Standstreifen genutzt und haben mir damit großzügig Platz in der Fahrbahnmitte gemacht. So konnte ich auch bei Gegenverkehr problemlos überholen. So ein zuvorkommendes Verhalten misse ich doch bisweilen auf deutschen Straßen und möchte die Gelegenheit deshalb nutzen, um allen rücksichtsvollen Polen auf meinem Weg und überall auf der Welt herzlich zu danken.

Warschau: Symbolbild

Als ich abends in Warschau einfuhr, hat sich die Stadt vor mir eher wie eine amerikanische Großstadt aus einem Hollywood-Film präsentiert: Hohe Obelisken aus Glasbeton, die über einem dichten Netz aus breiten Straßen thronen auf denen das blecherne Blut im Form hunderter PKW dickflüssig fließt.

Auch wenn die Warschauer den Kulturpalast als Symbol Sowjetischer Opression mit gemischten Gefühlen wahrnehmen, ist das Bauwerk als solches beeindruckend. Vom 35. Stockwerk hat man einen fantastischen Blick auf die Stadt.

Verfallende Miniaturen vor einem Hochhaus am Kulturpalast

Aber auch zu dessen Füßen kann man einiges entdecken. Zum Beispiel eine verfallende Ausstellung von Miniaturen. Viele der ausgestellten Gebäude sind dem zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen und existieren nun nicht mehr. Deshalb beschränkt sich der wiederaufgebaute historische Stadtkern Warschaus auf einen überschaubaren Bereich. Dazu gehört unter anderem der Altstadtmarkt.

Warschau ist sehr durch die vielen PKW geprägt und deshalb sind große Flächen versiegelt. Davon bietet der Łazienki-Park eine willkommene Abwechslung. Zentral im Park befindet sich der gleichnamige Palast, der inmitten der Wasserflächen ein treffliches Fotomotiv abgibt.

Grapefruit-Weizenbier im KOMU-KOMU

Das kulinarisch Polen hat sich mir in Form von Piroggen vorgestellt. Diese können mit deutschen „Maultaschen“ verglichen werden. Darüber hinaus hat mich ein kleines Restaurant in Kamionek namens KOMU KOMU vor allem mit seinem hervorragenden Grapefruit-Weizenbier und angenehmer Gesellschaft überzeugen können.

Vilnius und der Mittelpunkt Europas

Die zweite Strecke war vorwiegend durch Regen geprägt. Leider hing ein Regenband zwischen Warschau und Vilnius fest, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, auch diese Etappe auf der Autobahn zu beginnen. Ein wenig verwunderlich fand ich die Bushaltestellen, die an eher zufällig wirkenden Teilen der Autobahn stehen. Ich kann mir nach wie vor keinen Reim darauf machen, wer hier ein- oder aussteigen soll.

Irgendwann als der Regen schwächer wurde, habe ich auf die Landstraße gewechselt. Das war eine sehr gute Entscheidung, denn ab Augustów bis weit hinter die litauische Grenze habe ich eine wunderschöne Landschaft erleben dürfen. Inmitten von Wäldern hoher Nadelbäume sind immer wieder Seen und offene Lichtungen zu sehen und hinter der litauischen Grenze formen zusätzlich sanfte Hügel die Landschaft.

Einen ganz besonderen Moment werde ich nicht vergessen: Als ich die Abendsonne im Rücken über eine schnurgerade Straße durch einen dunklen Wald fuhr, habe ich stets im Fluchtpunkt die roten Wolken am Himmel sehen können. Je weiter ich darauf zugefahren bin, desto größer wurde das Licht und als ich den Waldrand passierte, war es, als ob die Farben explodieren wollten: Der tiefrote Abendhimmel tauchte eine riesige Ebene in ein durchdringendes Licht: Ein Moment wie aus einem Märchen.

Dieser Moment steht stellvertretend für all die schönen Dinge, die ich während der Fahrt gesehen habe: Auf die ganz besonders schönen Momente habe ich mich lieber eingelassen, statt aus ihnen herauszutreten und Fotos zu machen. Hier kann ich nun lediglich die romantische Erinnerung wiedergeben.

Nachts kam ich in Vilnius an und habe mich gewundert, wo eine Stunde meiner Zeit geblieben war. Erst nach einer Weile ist mir aufgefallen, dass ich bei meiner Reise nach Osten mit der Polnisch-Litauischen Grenze eine Zeitzone überschritten hatte.

Auf den ersten Blick ist Vilnius eine sehr europäische Stadt. Ein Litauer hat mir bei einem abendlichen Drink in einer Bar – Alkoholverzehr im öffentlichen Raum außerhalb von Gaststätten ist unüblich – in der Altstadt einen Teil der jüngeren Geschichte erzählt: So gibt es neben der wunderschöne Altstadt mit ihren vielen Kirchen und engen Gassen und einem florierenden Bankenviertel auch die von sowjetischer Architektur geprägten Vororte von Vilnius, in denen unter anderem die HBO Fernsehserie „Tschernobyl“ gedreht wurde.

Gulinti galva in Europos Parkas

Denn nicht nur der Kern von Vilnius ist sehenswert. Einer der beeindruckendsten Orte, die ich je gesehen habe, ist Europos Parkas, ein Waldpark am geografischen Mittelpunkt Europas, der Skulpturen von Künstlern aus aller Welt beherbergt. Europos Parkas ist ein wahrlich magischer Ort! Zu Beginn erhält man eine handgezeichnete Karte, wie eine Schatzkarte zu einer fantastischen Welt. Wenn man ungestört den Wald erkundet, findet man überall magische Orte. Strukturen, die eine Geschichte erzählen wollen. Ich persönlich habe den Park lediglich in einer Stimmung, im Sommer bei Tag, gesehen. Dieser Ort ist es wert, mit den tröpfelnden Regen, im mysteriösen Nebel und in lauen Nächten zusammen mit der Fauna, im Sommer wenn die Bäume Schatten spenden, im Herbst, wenn die Blätter leuchten, im Winter, wenn die Skulpturen unter einer weißen Decke schlummern und im erwachenden Frühling entdeckt zu werden. Sollte ich wieder nach Vilnius kommen, werde ich diesen Park immer wieder besuchen!

Klaipėda – Meer, mehr Meer und noch mehr Meer

Mein persönliches Sehnsuchtsziel dieser Reise und Grund diese überhaupt so auszulegen war die Stadt Klaipėda. Es ist eine Industriestadt an der Ostsee, dort wo das kurische Haff in die Ostsee mündet.

Mein Weg dorthin hat mich durch die etwas dünner besiedelten Teile Litauens geführt. Vorbei an einem mystischen Ort namens Šiauliai, respektive an den Berg mit den hunderttausend Kreuzen. Eine Geschichte um diesen Ort berichtet von der Unterdrückung der Religionsausübung durch die Sowjets, denen die Litauer einen nie abreißenden Strom von Kreuzen trotzig entgegengesetzt haben. Heute finden sich dort Kreuze aus aller Welt. Zum Beispiel von Militärabteilungen der US Air Force oder von Hilfsorganisationen. Dieser Ort wird mir als Symbol für friedlichen Protest und unverbrüchlicher Hoffnung gegen Unterdrückung in Erinnerung bleiben.

Abendleben im Hafen von Klaipėda

Schließlich habe ich Abends Klaipėda erreicht, das in den Erzählungen meiner Familie noch ab und an „Memel“ genannt wird. Durch meine persönliche Verbindung zu dieser Stadt kann ich ihrem Industrieflair durchaus einiges abgewinnen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich bereits vorher ein Faible für Industriecharme hatte und davon hat Klaipėda reichlich. Insbesondere die Abendsonne senkt einen ehrlichen Frieden über den Hafen. Die Gebäude und Schiffe erzählen von der Sowjet-Ära, harter Arbeit und einem Weg in eine moderne Gesellschaft nach westlichem Vorbild.

Nur wenige Meter und eine Fahrt mit der Fähre trennt Klaipėda von der Kurischen Nehrung. Die Landzunge grenzt im Süden auch an die russische Enklave Kaliningrad und kurz vor der Grenze hatte schon der Autor Thomas Mann in Nidden diese friedliche Natur zu schätzen gewusst. Sie ist ein atemberaubender Kontrast zur Stadt. Die Dünenlandschaft hat eine eigene Vegetation, die eine ganz eigene, wunderbare Ruhe hervorbringt.

Palanga, von der Seebrücke

Insbesondere entlang der Ostseeküste ist Litauen ein so wundervoller Flecken Erde. Nicht nur die kurische Nehrung, die eigentlich einen eigenen Artikel verdient, ist wunderschön. Dem friedlichen Strand steht der Touristenort Palanga gegenüber, der in meiner Familie gerne als „Polangen“ referenziert wird. Hier treffen sich vor allem junge Menschen um ihre Jugend an Sommerabenden zu feiern. Die Westlage der Küste lädt dazu herrlich ein, denn es gibt wohl kaum einen schöneren Anblick als die Sonne im Meer versinken zu sehen.

Hafen in Ventspils

Bis ich diesen Anblick in Ventspils (deutsch: Windeck) in Lettland erleben konnte, habe ich jedoch erst 200 km nach Norden zurücklegen müssen. Wenn ich nicht über staubige Feldwege an uralten Windmühlen vorbeigefahren bin, konnte ich dabei viele Kilometer direkt an der Küste zurücklegen. Es ist einfach wunderbar, das scheinbar unendliche Wasser links, die freie Straße geradeaus und die goldenen Felder rechts während dieser Fahrt bewundern zu können. Ein wahrlich würdiges Finale für den Reiseabschnitt im Baltikum. Bereits vor dem Übersetzen der Fähre von Ventspils nach Stockholm habe ich für mich beschlossen, dass ich das Baltikum noch öfter besuchen werde.

Stockholm & Schweden: Vom Wasser, am Wasser, zu Wasser, zum Wasser

Nynäshamn begrüßte mich mit herrlichem Wetter und einem Bilderbuchidyll aus blauem Meer, rot-weißen Holzhäusern und blanken Felsen, die zwischen der Vegetation immer wieder ans Licht kommen. Not so Fun Fact: Zwei Wochen später steht die Fähre, mit der ich gekommen bin, in Flammen. Kurzerhand habe ich beschlossen, nicht auf direktem Weg nach Stockholm zu fahren, sondern kleine Wege zu suchen und den Weg mein Ziel sein zu lassen.

In Stockholm selbst musste ich einen Parkplatz für mein Motorrad zu finden. Auf der Gamla Stan, der bekannten Altstadtinsel Stockholms, stellte mich das tatsächlich vor eine echte Herausforderung: Es gibt zwar Parkplätze, die sind allerdings für Autos und für 2 Nächte nahezu unbezahlbar. Allgemein verbleibt bei mir der Eindruck, dass Stockholm im Kontrast zum restlichen Schweden nochmal deutlich teurer ist. Dafür ist die Stadt sehr gepflegt, die Häuser nobel, der Umgang gehoben und das kulturelle Angebot reichhaltig.

Nach einer Nacht in einem Mehrbettzimmer im Hostel habe ich beschlossen, die Stadt per pedes zu erkunden. Der bekannte Stortorget ist dabei mein Startpunkt. Insbesondere durch die unpassierbaren Wasserflächen zwischen den Inseln Stockholms werden die Wege sehr lang. Aus der Not habe ich mit einer Schärentour eine Tugend gemacht werden: So werden Wasserwege passierbar und ich konnte Stockholm auf eine wunderbare Weise entdecken.

In der kurzen Zeit, die ich in Stockholm verweilte, blieb mir nicht genügend Zeit um diese große Stadt auch nur annähernd zu durchdringen. Allerdings ist Schweden auch nicht nur Stockholm und so war ich bereits gespannt meine Etappe durch Schweden, auf den Weg nach Jönköping am Vättern, dem zweitgrößten See Schwedens und dem zehntgrößten Europas.

Da ich Hauptverkehrswege meide, habe ich mich oft auf Schotterwegen wiedergefunden. Was zunächst ungewohnt und für mich als Motorradfahrer gefährlich wirkte, hat sich schnell in eine Freude umgekehrt, ein bisschen schneller in die Kurve zu gehen und beim Herausbeschleunigen ein bisschen zu driften und Staub aufzuwirbeln. Mit viel Freude am Fahren habe ich so auch dem Vänern, den viertgrößten See Europas einen Besuch abstatten können.

Erst am Abend habe ich Jönköping erreicht. Nach einem Tag auf zwei Rädern fühlte ich mich ebenfalls gerädert. Der anschließende Saunagang war so wohltuend, dass ich mich noch zu einem kurzen Spaziergang habe hinreißen lassen.

Jönköping bei Nacht

Kopenhagen – Zweirad, aber unmotorisiert!

Weiter ging meine Reise erst einmal wieder in Schweden. Ein schönes Bild ist mir im Kopf geblieben, als ich auf der Öresundbrücke nach Kopenhagen fahren konnte: Von der Brücke aus kann man im Norden den charakteristischen Offshore-Windpark Kopenhagens entdecken und vom Meer umgeben fuhr ich kilometerlang der dänischen Hauptstadt entgegen.

Aus Stockholm Leid erprobt habe ich mich in Kopenhagen gleich dazu entschieden, weit Außerhalb zu parken, mein Gepäck mitzunehmen und schließlich mit dem Zug in die Innenstadt zu fahren.

Kopenhagen ist eine wunderbare Stadt! Ich habe mich sehr wohl gefühlt als ich die Stadt mit dem Fahrrad erkundet habe. Dazu beigetragen hat auch die Begegnung mit einem überaus freundlichen Australier namens Soroush.

Ein großartiger Start in den Tag war der Sprung in den Hafen, in einen der vielen frei zugänglichen Badebereiche. Diese herrlich unkomplizierte Art den Tag zu beginnen haben neben uns auch zahlreiche Einheimische genutzt.

Danach konnte ich entspannt die Stadt erkunden, die Sehenswürdigkeiten, wie den historischen Hafen, den Runden Turm oder das Schloss Rosenborg anschauen, Kaffee trinken, die Sonne und das Meer am östlichen Stadtstrand genießen, und das großartige Projekt „Christiana“ besuchen.

Mein persönliches Highlight war auf jeden Fall Tivoli, der seine Tore seit 1843 für Besucher*innen geöffnet hält. Die Lage mitten in der Stadt, die Vielzahl an Attraktionen, die Liebe zum Detail, aber allem Voran gute Gesellschaft machen diesen Freizeitpark wirklich zu etwas Besonderem.

Kopenhagen, als vorletzte Station auf meiner Reise ist ohne Zweifel auch deren Höhepunkt gewesen. Ein bisschen wehmütig, aber vor allem reich an Erfahrungen, wunderbaren Bildern, bleibenden Eindrücken und neuen Ideen habe ich Kopenhagen über die Fähre gen Heimat verlassen.

Greifswald – Zurück zu den Wurzeln

Doch bevor ich wieder zurück nach Dresden gefahren bin, habe ich eine letzte Rast in Greifswald eingelegt. Hier konnte ich Verwandte besuchen, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Hier kommt ein anderer Teil meiner Familie her. Hier kann ich einen Kreis um meine Geschichte schließen.

Nach fast 4000 km schaue ich zuversichtlich in die Zukunft: Ich werde mich noch einmal aufmachen um Teile meiner Geschichte entdecken, um Neues für mich zu entdecken und meinen Teil der Geschichte zu schreiben.

Mehr sozialen Populismus wagen

Seit 20 Jahren verändert sich politisch kaum etwas. Dazu hat auch das nunmehr 16 sehr lange Jahre andauernde Angelozän beigetragen. Das muss erstmal nicht schlecht sein. Die Regierungen unter Angela Merkel haben durch minimalstinvasive Politik eine eigene Art der Stabilität geschaffen. Den Status quo zu halten ist allerdings nur für diejenigen von Interesse, die damit eigentlich ganz zufrieden sind oder sogar davon profitieren. Dazu gehören wohl die allermeisten in diesem Land nicht und dennoch sind die Chancen, dass dieses Land und Europa auch in der kommenden Legislaturperiode von Lethargie und Konservatismus geprägt werden, gar nicht mal schlecht. Wo sind sie also, die nicht vom Ist-Zustand profitieren?

Erklärungsversuche

Zum einen gibt es einen nicht unerheblichen Teil, der dem „American Dream“ verfallen ist, in der festen Überzeugung, dass „wenn man nur hart genug arbeite, werde man auch irgendwann zu den Privilegierten gehören“. Dieser Ansatz impliziert die Erklärung warum man (noch) nicht zu den Wohlhabenden gehört: Man hat einfach nicht hart genug gearbeitet.

Wenngleich einiges durch Arbeitsaufwand erreicht werden kann, ist dieser Traum für die meisten doch eine zunehmende Illusion. Es gibt durchaus mehr Faktoren, die den Erfolg beeinflussen: Bildung, Persönlichkeitsmerkmale, finanzielle Ausgangslage, Flexibilität und neben vielem mehr auch immer ein nicht unbedeutender Bestandteil Glück. Während einige dieser Startvoraussetzungen bist zu einem gewissen Grad beeinflusst werden können, gibt es andere, die uns in die Wiege gelegt werden und mit denen wir fortan zurecht kommen müssen. Während Wohlhabende ihre Kinder auf Privatschulen schicken, ihnen Zugang zu Stipendien ermöglichen und problemlos Wohnungen in Uni-Städten mieten oder sogar kaufen können, bleiben diese Privilegien vielen vorenthalten. Auch BAföG kann in seinem derzeitigen Umfang diese Ungleichheiten nicht beseitigen.

De facto gibt es eine wachsende Ungleichheit in Deutschland und das führt dazu, dass jener „American Dream“ nur noch bedingt funktionieren kann. Die soziale Mobilität nimmt ab (Anmerkung des Autors: Und das mag was heißen, wenn sogar die FAZ darüber berichtet.). Je nach Auslegung gibt es also für die unteren 40-90% in Deutschland überhaupt keinen Grund, den Status quo aufrecht erhalten zu wollen.

Wie lässt sich dann aber erklären, dass soziale Parteien dennoch keine Mehrheiten bei Wahlen erringen können? Die Antwort darauf ist sicher weder monokausal noch einfach. Ich möchte mir nicht anmaßen, das vollumfänglich erklären zu können, aber einen Ansatz möchte ich hier anbringen: Vielen Wählern ist nicht klar, wo sie aktuell in der Gesellschaft stehen, wie sich unsere Gesellschaft kurz-, mittel- und langfristig entwickeln wird und wie sie das in ihrem Interesse beeinflussen können. Dass die Welt sehr komplex ist, viel komplexer als ich mit meinem beschränkten Geist zu erfassen in der Lage bin, ist mir durchaus bewusst. Deshalb muss ich mich auf wesentliche Dinge beschränken und klare Prioritäten setzen.

Ein Negativbeispiel ist das Wahlprogramm der SPD (wobei das den Wahlprogrammen der übrigen Parteien in Sachen Komplexität kaum nachsteht): Auf der ersten Seite werden fünf Punkte genannt, die mit einem kurzen Satz erklärt werden.

I. Zukunft. Respekt. Europa.

Der Klimawandel, die Arbeit von morgen, Chancengerechtigkeit, der Zusammenhalt der Gesellschaft, die Einheit Europas – das sind die Themen, die unsere Zukunft bestimmen.

SPD zukunftsprogramm 2021

Was genau nun Respekt und Arbeit von morgen mit dem Klimawandel und der Chancengleichheit zu tun haben, oder was den gesellschaftliche Zusammenhalt mit der Einheit Europas und alles zusammen mit Zukunft verbindet? Ich kann es intuitiv nicht sagen. Es bleibt sehr abstrakt, die Punkte sind mehr eine Akkumulation verschiedener Buzzwords und die Inhalte bleiben vage. Auch ein Klick auf die detaillierte Erläuterung hilft nicht viel: Zunächst werden Fragen aufgeworfen, die im weiteren Verlauf allerdings nicht wirklich beantwortet werden. Vielmehr gibt es viel Kritik und schöne Visionen einer utopischen Zukunft. Es ist allerdings wenig Greifbares dabei, es mangelt an konkreten Ideen für die Beantwortung der vielen, vielen Fragen.

Persönlich fühle ich mich von sehr konkreten Überschriften deutlich eher angesprochen. Und das geht wohl auch den meisten BILD-Lesern so. Wenngleich ich dieses Medium missbillige, kann ich seinen Methoden eine Erkenntnis abringen: Natürlich kann man so die Sachlage in all ihrer Komplexität nicht vollständig abbilden. Das ist aber meiner Meinung nach auch nicht die Aufgabe der Politik, sondern der Wissenschaft. Durch Steuergelder werden die Abgeordneten unserer parlamentarischen Demokratie dafür bezahlt, Probleme in ihrer Komplexität zu erfassen und dezidierte Entscheidungen zu treffen. Die Kommunikation mit dem Wähler, ob über Wahlprogramm, Pressekonferenz oder Medien, muss aber keinem wissenschaftlichen Anspruch genügen, sondern darf durchaus eine einfache Abbildung der Realität sein. (Wer sich informieren will, soll dies selbstverständlich auch weiterhin tun können und auch gerne tun!) Populismus ist ein valides Instrument demokratischer Politik.

Genau das haben Rechtspopulisten (inklusive der oben genannten BILD-„Zeitung“) erkannt und fangen Wählerstimmen mit sehr simplifizierten Aussagen. Mit diesen Aussagen erreichen sie den durchschnittlich gebildeten und durchschnittlich interessierten Bürger. Auch soziale Parteien könnten von aufs Wesentliche reduzierten Aussagen und konkreten Forderungen profitieren. Allerdings ist Populismus in diesen Kreisen ein in Verruf geratenes Instrument. Denn selbstverständlich polarisiert Populismus und kann somit zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Deshalb braucht es Diskurs und Begegnung, öffentlichen Meinungsaustausch und Streitgespräche auf dem Marktplatz. Am besten ohne argumentum ad hominem und so, dass die Würde des Gegenüber gewahrt bleibt. Wir brauchen weniger destruktiven Populismus zugunsten von konstruktivem Populismus.

Forderung

Auch wenn ein komplexes und vollumfängliches Wahlprogramm für eine Regierungsbildung bestimmt von Vorteil ist und eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen den Parteien schafft, fordere ich zumindest eine Priorisierung mit konkreten Vorschlägen. Zum Beispiel:

I. Aufhebung des Steuergeheimnis

Es gibt ein öffentliches Interesse daran zu wissen, welcher Bürger welches Einkommen hat und wie er dieses versteuert. Um Ungleichheit, Steuerflucht und -vermeidung effektiv entgegenwirken zu können, müssen diese und deren Ursachen erst identifiziert werden. Es darf kein Recht auf Verschleierung finanzieller Abhängigkeiten geben.

II. Abgeordnete zu Transparenz verpflichten

Ein Bundes- oder Landtagsmandat ist eine Vollzeitbeschäftigung, bei der die Wahrung der Wählerinteressen immer im Vordergrund stehen muss. Beeinflussung, Korruption, Bestechlichkeit, Vorteilnahme und Interessenkonflikte müssen durch Transparenz für Spenden ab dem ersten Euro und ein öffentliches Lobbyregister entgegengewirkt werden. Jeder Bürger hat das Recht darauf zu erfahren, aus welchem Interesse seine Vertreter Entscheidungen treffen.

III. Erbschaftssteuer erhöhen

Finanzielle Ungleichheit manifestiert sich über Generationen und behindert die soziale Mobilität maßgeblich. Um die Ausgangsbedingungen der Bürger unabhängig von der sozialen Herkunft anzugleichen, müssen Erbschaften, die ein festzulegendes Volumen überschreiten, erheblich progressiver besteuert werden. Das ist ein Beitrag zur generationengerechten und nachhaltigen Chancengleichheit.

IV. Grunderwerbssteuer erhöhen

Spekulation mit Mietimmobilien fügt der Gesellschaft erheblichen Schaden zu. Mit Ausnahme für den Eigenbedarf muss die Grunderwerbssteuer so erhöht werden, dass kurz- und mittelfristige Anlagen in Immobilen unrentabel werden.

V. Branchenunabhängigen Mindestlohn auf 13 €/h erhöhen

Prekär Beschäftigte im Niedriglohnsektor können mit dem aktuellen Mindestlohn trotz Vollzeit (und Anstieg des Mindestlohns bis 2022) nicht immer ein würdiges Leben führen. 13 € ist die Untergrenze dessen, was eine Stunde Arbeit wert sein darf. Damit wird ein sozialer Mindeststandard gesetzt, der ein Leben mit gesellschaftlicher Teilhabe und ohne Armut ermöglicht.

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels, die bis zum 7.12.22 online war, habe ich 12 €/h Mindestlohn gefordert. Diese Forderung habe ich auf 13 €/h angeglichen.

Nein, ich habe keine Freundin

Ich bin 27 Jahre alt und hatte noch nie eine richtige Freundin. Das heißt nicht, dass ich misogyn, soziopathisch oder entstellt bin. Zumindest nicht zwangsläufig. Ich fühle mich meistens sehr unwohl, wenn das Thema Liebe, Sex und Beziehung aufkommt. Deshalb möchte ich hier schildern, wie ich das empfinde und hoffe, dass der Leser verstehen kann, warum.

Ich gehöre zu den „digital natives“ und bin mit dem Internet aufgewachsen. Deshalb verbringe ich viel Zeit im Netz, unter anderem auf Seiten wie reddit. Unter vielen Subreddits, die ich aktiv lese ist auch r/niceguys. Das ist ein Forum, in dem die abscheulichsten Seiten von meistens jungen Männern gegenüber Frauen zur Schau gestellt werden. Da ich wahrscheinlich keine Teilnehmer der dort dargestellten Communiqués persönlich kenne, kann ich nur vermuten, was in ihnen vorgeht, aber das ist nie eine Entschuldigung für Frauenhass. Persönlich habe ich mich schon sehr falsch gegenüber Frauen verhalten und dafür schäme ich mich sehr. Das werde ich auch nicht loswerden und möchte ich auch nicht kleinreden. Da ich mich aber nicht (mehr) damit identifizieren kann und will, möchte ich auch nicht näher darauf eingehen.

Dennoch fühle ich mich genötigt, diesen Absatz zu schreiben, weil ich mich mit diesem Vorwurf konfrontiert sehe, wenn ich darüber rede, dass ich keine Freundin habe. Gerade gestern habe ich ein gemütliches Bier mit zwei Freunden genossen, als das Thema aufkam. Dabei ist das Schema der Konversation ziemlich charakteristisch gewesen. Zunächst sind beide schockiert, dass ich in meinem Alter noch keine Freundin hatte, das kann ich durchaus nachvollziehen. Dann aber wird der Rückschluss getroffen: Eine Freundin zu haben, ist etwas normales, folglich muss mit mir etwas nicht stimmen. Und ab dann wird es für mich sehr unangenehm. Ich möchte hier ein paar typische Reaktionen schildern.

Es ist ein paar Jahre her, dass ich einen so engen Kontakt zu einem meiner besten Freunde hatte. Damals haben wir uns relativ häufig über Liebe und Sexualität unterhalten. Ich habe zugegebenermaßen gerne gejammert, dass ich keine Freundin finde. Daraufhin meinte er, dass ich „einfach ich selbst sein“ solle. Im Gespräch mit ihm sei ich ja auch umgänglich und entspannt. Ich würde auch so gestelzt hochdeutsch reden und dass das nicht gut ankäme.

Gestern meinte ein anderer Freund zu mir, dass das mit den Frauen garnicht so schwer wäre. Deshalb schlug er mir vor, bestimmte Verhaltensmuster zu adaptieren. Selbiger Freund hat mir YouTube-Videos vorgeschlagen von einem Mann, der Frauen anbaggert und damit erfolgreich ist. Es sei Überwindung der eigenen Comfort-Zone, man müsse Rückschläge vertragen können, deutlich offensiver an die Sache herangehen und einfach mal über seinen Schatten springen. Auch mal seine eigenen Prinzipien nicht ganz so ernst nehmen und einfach machen.

Der weitere Freund, der am gestrigen Gespräch zugegen war, hat laut eigener Aussage (und das ist durchaus plausibel) viel Sex mit wechselnden Partnerinnen. Er könne sich ein Leben ohne Frau nicht vorstellen und mich nicht verstehen. Und dann fing er an zu erzählen, wie das bei ihm so alles gelaufen ist. Wann er sein erstes Mal hatte, wie sich seine Sexualität entwickelt hat, was er dazugelernt hat, wie er zwischen Sex und Liebe differenziert und was er für eine ideale Beziehung hält.

Die drei Beispiele sind exemplarisch für das, was ich zu hören bekomme, wenn ich darüber reden möchte, dass ich keine Freundin habe, mir aber durchaus eine wünsche. Dabei habe ich das Gefühl, dass ich in diesem Moment darauf reduziert werde, keine Freundin zu haben. Das wird als Makel, als Fehler in meiner Person gesehen und den gilt es offenbar zu beheben. Deshalb bekomme ich dann gut gemeinte Ratschläge, gemischt mit ein wenig Unverständnis. Dass das aber zu meiner Person dazu gehört und auch immer dazugehören wird, ist schwer zu vermitteln. Natürlich denke ich manchmal, dass mir etwas fehlt, aber bisher hab ich auch ohne Freundin überlebt. Ich bin nicht weniger ich selbst, weil ich keine Freundin habe. Im Gegenteil; das gehört auch zu meiner Person dazu und das ist erstmal weder gut noch schlecht, sondern es ist einfach so.

Ich empfinde es als anstrengend, wenn ich mir sich teilweise widersprechende Tipps geben lassen muss, was ich verändern und verbessern kann. Ich habe auch viele von diesen Tipps immer mal versucht umzusetzen und bin dadurch trotzdem dort, wo ich jetzt bin. Manchmal finde ich Tipps nicht gut, habe sie bereits erfolglos umgesetzt oder möchte sie nicht umsetzen. Dann heißt es schnell, dass ich mir ja nicht helfen lassen wolle und ich nicht jammern solle. Wenn ich mit einem Freund schon mehr als einmal darüber geredet habe, dann kommt manchmal auch zurück, dass ich dann doch nicht immer mit derselben Leier kommen solle, wenn ich nichts verändern würde.

Natürlich nehme ich konstruktive Kritik gerne an und selbstverständlich versuche ich mich zu entwickeln. Aber wenn ich erzähle, dass ich keine Freundin habe und mir eine wünschen würde, dann nicht, weil ich ein Ideen-Briefkasten oder eine Beziehungs-Sandbox zum ausprobieren bin. Wenn ich darüber reden möchte, dann heißt das meist, dass ich momentan darüber nachdenke und ich jemanden gebrauchen könnte, der mir zuhört.

Ein paar Dinge sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten deutlich besser geworden, weil sie gesellschaftlich akzeptiert wurden. Ich bin als „Langzeit-Single“ ein Teil unserer Gesellschaft und auch nicht alleine. Ich versuche meinen Beitrag in der Gesellschaft zu leisten, ein guter Freund und Mensch zu sein. An mir ist nichts falsch und ich bin nicht krank, weil ich keine Freundin habe.

Zum Schluss möchte ich ein weiteres Beispiel von einem weiteren Freund nennen, mit dem ich über dasselbe Thema geredet habe. Es ist ein Kontrast zu dem, was ich bisher erlebt habe und hat sich an einer Feuertonne irgendwann im Dezember letzten Jahres zugetragen. Ich habe ihm erzählt, dass ich bisher keine Freundin hatte, das ich durchaus mit Frauen Kontakt habe, mir auch ein paar Frauen näher gekommen sind. Vieles von dem was ich erlebt habe, sind nicht so schöne Erfahrungen, manche sind besser. Er hat mir zugehört, ab und an erzählt was er wie erlebt hat und als ich mich verabschiedet habe, gesagt: „Du bist gut wie Du bist, ich unterstütze Dich, wenn Du meine Hilfe brauchst und alles andere wird sich zu seiner Zeit ergeben“.

Verschwörungspraktiker

Eigentlich hatte ich gehofft, dass das inflationäre Aufflammen von Verschwörungstheorien zu Anfang der COVID-19 Pandemie sich selbst überlassen von alleine erledigen würde. Ich glaube nach wie vor unverbrüchlich an die Räson der Menschen in diesem Land, auf diesem Planeten und damit so ziemlich an die der Menschheit allgemein. Allerdings hat sich dieser schon immer vor sich hinschwelende Brand neuerdings zu einem mittelschweren Waldbrand entwickelt. Neuerdings bekomme ich sogar aus meinem näheren Umfeld angetragen, dass dieser und seller wie auch immer gearteten Trugschlüssen und kruden Theorien aufsäße. Um mich dahingehend entschieden zu positionieren: Das finde ich nicht gut. Schon alleine Berichte von derartigem zu hören ist beunruhigend. Deshalb: Wie auch immer gearteten „alternativen Fakten“ auch nur Aufmerksamkeit zu schenken ist grundlegend falsch. Die einzigen, die sich gewinnbringend mit diesen beschäftigen können, sind Soziologen, die die Herkunft und Ausbreitung solcher Theorien studieren. Jetzt ist es aber nicht immer ganz einfach, Tatsachen von Verschwörungstheorien zu trennen. Gerade wenn die Hauptinformationsquelle soziale Medien sind, ist allein die Quantität der Meldungen erschlagend und man kann dem Unheil nur schwer ausweichen. Deshalb möchte ich mich hier damit beschäftigen, wie ich versuche tatsächliche Wahrheit von der dazu meist diametral stehenden „alternativen Wahrheit“ zu separieren. Sind beide Mengen orthogonal zueinander, ist das recht einfach, aber die Schöpfer solcher Theorien unterfüttern ihre Ansichten meist mit Wahrheitsfragmenten oder Halbwahrheiten um ihre Meinung glaubhaft zu machen.

1. Qualität vor Quantität

Wie bereits angedeutet, kann einen die Flut an Falschmeldungen auf Facebook, Twitter und Co. an schierer Quantität erschlagen. Online-Portale geben jedem die Möglichkeit seine Meinung kund zu tun. Bei ca. 32 Millionen deutschen Facebook-Nutzern hat gerade dieser Kanal eine große Reichweite. Die allermeisten Beiträge erweitern den öffentlichen Diskurs um eine weitere geschätzte Privatmeinung. Es gibt allerdings auch Nutzer, die statt einen gut recherchierten Beitrag lieber viele auf zumindest fragwürdiger Faktenlage basierende Beiträge veröffentlichen. Auch die sogenannte ‚Filterblase‘ kann dazu führen, dass Beiträge mit bestimmtem Inhalt inflationär angezeigt werden und damit überproportional präsent sind. Es fällt oft nur allzu leicht, sich einer Mehrheit anzuschließen, auch wenn diese nur künstlich ist. Das darf keinesfalls als Kriterium für den Wahrheitsgehalt genommen werden.

Es mag paradox wirken, dass ich gerade das empfehle, was oft als „wacht auf!“ an die „Systemschafe“ gerichtet wird. Allerdings maße ich mir an, damit eine leicht abgewandelte Aussage zu treffen; „Quantität ist nicht proportional zu Qualität“ – oft ist sogar das Gegenteil der Fall – statt „Glaubt nicht den anderen, glaubt mir, weil ich sage die Wahrheit“.

2. Glaubwürdige Quellen haben das reinere Wasser

Die vielen Stimmen auf sozialen Medien verbreiten ein Meinungs- und Stimmungsbild, das oft über einfache Heterogenität hinausgeht. Statt in der Flut aus sich gegenseitig widersprechenden Meinungen unterzugehen, lohnt es, auf Menschen zu vertrauen, die ihre Leben der Findung von Informationen und Wahrheit oder deren Darstellung gewidmet haben. Da aber nicht jeder, mich eingeschlossen, die Muße und Expertise hat, sich mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen, gibt es Journalisten, die versuchen, dieses Fachwissen für den ‚Normalbürger‘ zu übersetzen. Es ist nicht nur sinnvoll auf die Journalisten zu vertrauen, die bekanntermaßen unvoreingenommene und gute Arbeit machen, sondern auch deren Quellen können manchmal zumindest eingesehen werden. Ist die Quelle ein angesehenes wissenschaftliches Institut und die Plattform ein großes öffentliches Medium, dem bei Falschmeldung Vertrauensverlust und Gewinneinbußen drohen, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, hier eine belastbare Information zu erhalten. Bei privaten Bildungseinrichtungen, anonymen Social-Media-Accounts, Kanälen von Interessengruppen und kleinen, ausschließlich im Netz erscheinenden und selbsternannten Nachrichtenportalen ist Vorsicht geboten und die gegebene Information sollte zumindest sehr kritisch geprüft werden, ehe man sie in den eigenen Horizont aufnimmt.

Auch große Medien verbreiten nebst recherchierten und zusammengetragenen Informationen Meinungen. Diese sind aber fast immer als solche gut sicht-, hör- und lesbar gekennzeichnet und bedürfen der Interpretation des Konsumenten.

3. Überprüfbarkeit als Daumenmaß

Verschwörungstheorien können manchmal nicht direkt als Unwahrheit entlarvt werden. Unter anderem, da die Argumentation ihrer Anhänger einem Beteiligung daran oder Beeinflussbarkeit unterstellen. Außerdem sind die vermeintlichen Hintergründe der Theorien meist nur schwer oder garnicht überprüfbar, von niemandem. Oft sind das unmoralische Allianzen, geheime Bündnisse oder sinistre Absichten einzelner Mächtiger. Fragt man sich, wer das wann überprüfen könnte und ist der Schluss Niemand und niemals, dann muss der Theorie nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie wohl immer These ohne Beweis bleiben wird. Wie in einem Gerichtsprozess gilt auch hier: Indizien sind keine Beweise!

4. Ockhams Rasiermesser schneidet scharf

Verschwörungstheorien bieten meist eine alternative Erklärung zu real geschehenden Ereignissen. Dabei entsteht das Dilemma, dass diese Schilderungen nicht mit dem allgemein anerkannten Wissensstand vereinbar ist. Von der Theorie wird aber der monotheistische Anspruch erhoben, die einzige Wahrheit zu sein, an die geglaubt werden soll. Wem soll also vertraut werden? Dafür bietet Ockhams Rasiermesser ein probates Mittel. Das Prinzip heißt Einfachheit. Es sollten nur so viele Variablen in die Lösung gesteckt werden, wie notwendig sind um das Problem zu lösen, oder anders: Die einfachere Erklärung ist im Zweifelsfall der komplexen vorzuziehen. So ist es zum Beispiel einfacher zu akzeptieren, dass man auf der A2 die Ausfahrt Bielefeld schlicht verpasst hat, statt die Existenz der ganzen Stadt in Frage zu stellen.

Schlusswort

Bei allem, was ich in dieser Kürze zu diesem Thema geschrieben habe, möchte ich darauf hinweisen, dass meine Internet-Expertise auf keinen Fall das Fachwissen von Experten ersetzt. Wenn ich Bedarf sehe, behalte ich mir die Bearbeitung dieses Artikels vor. Dieser Beitrag soll im Idealfall eine Stütze für diejenigen sein, die Verschwörungstheorien ausgesetzt sind und Anhaltspunkte suchen, wie sie damit umgehen können.

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