Was ich mir während des Studiums nicht leisten konnte und was vergangenes Jahr aufgrund der pandemischen Lage nicht möglich war, habe ich dieses Jahr nachgeholt. Fast drei Wochen lang habe ich mir die Zeit genommen um Polen, Litauen, Lettland, Schweden und Dänemark zu erkunden.
Der beste Kompromiss aus Abenteuer und CO2-Impact, aus Flexibilität und Verlässlichkeit war dabei mein Motorrad. Meine Suzuki Bandit hat mir auf der 3920 km langen Strecke treue Dienste erwiesen und mich sicher und heil durch alle Widrigkeiten getragen.
Mitgebracht habe ich neue Erfahrungen, wunderbare Eindrücke, schöne Bilder und viele Geschichten, von denen ich ein paar zum Besten geben mag.
Warschau – Ob Sozialismus oder Kapitalismus, Hauptsache Beton
Begonnen hat meine Reise Anfang August in Dresden. Temperaturen über 30°C und die allgegenwärtige Sonne waren stete Begleiter auf dieser Strecke. Bis zu einer Mittagsrast in Łódź habe ich diese erste Etappe vorwiegend auf der Autobahn verbracht. Ab hier habe ich mich durch den Feierabendverkehr nach Warschau auf den Landstraßen (pol. Droga krajowa) 14 und 92 bewegt.
Aufgefallen ist mir, dass in Polen das Auto das Fortbewegungsmittel der Wahl ist. Das Verkehrsaufkommen ist dementsprechend hoch. Die Landstraßen sind zwar zweispurig, jedoch ausreichend breit gebaut mit einem fast durchgängigen Standstreifen. Einige Polen, die mich als Motorradfahrer im Rückspiegel gesehen haben, haben diesen Standstreifen genutzt und haben mir damit großzügig Platz in der Fahrbahnmitte gemacht. So konnte ich auch bei Gegenverkehr problemlos überholen. So ein zuvorkommendes Verhalten misse ich doch bisweilen auf deutschen Straßen und möchte die Gelegenheit deshalb nutzen, um allen rücksichtsvollen Polen auf meinem Weg und überall auf der Welt herzlich zu danken.

Als ich abends in Warschau einfuhr, hat sich die Stadt vor mir eher wie eine amerikanische Großstadt aus einem Hollywood-Film präsentiert: Hohe Obelisken aus Glasbeton, die über einem dichten Netz aus breiten Straßen thronen auf denen das blecherne Blut im Form hunderter PKW dickflüssig fließt.
Auch wenn die Warschauer den Kulturpalast als Symbol Sowjetischer Opression mit gemischten Gefühlen wahrnehmen, ist das Bauwerk als solches beeindruckend. Vom 35. Stockwerk hat man einen fantastischen Blick auf die Stadt.

Aber auch zu dessen Füßen kann man einiges entdecken. Zum Beispiel eine verfallende Ausstellung von Miniaturen. Viele der ausgestellten Gebäude sind dem zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen und existieren nun nicht mehr. Deshalb beschränkt sich der wiederaufgebaute historische Stadtkern Warschaus auf einen überschaubaren Bereich. Dazu gehört unter anderem der Altstadtmarkt.
Warschau ist sehr durch die vielen PKW geprägt und deshalb sind große Flächen versiegelt. Davon bietet der Łazienki-Park eine willkommene Abwechslung. Zentral im Park befindet sich der gleichnamige Palast, der inmitten der Wasserflächen ein treffliches Fotomotiv abgibt.

Das kulinarisch Polen hat sich mir in Form von Piroggen vorgestellt. Diese können mit deutschen „Maultaschen“ verglichen werden. Darüber hinaus hat mich ein kleines Restaurant in Kamionek namens KOMU KOMU vor allem mit seinem hervorragenden Grapefruit-Weizenbier und angenehmer Gesellschaft überzeugen können.
Vilnius und der Mittelpunkt Europas
Die zweite Strecke war vorwiegend durch Regen geprägt. Leider hing ein Regenband zwischen Warschau und Vilnius fest, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, auch diese Etappe auf der Autobahn zu beginnen. Ein wenig verwunderlich fand ich die Bushaltestellen, die an eher zufällig wirkenden Teilen der Autobahn stehen. Ich kann mir nach wie vor keinen Reim darauf machen, wer hier ein- oder aussteigen soll.
Irgendwann als der Regen schwächer wurde, habe ich auf die Landstraße gewechselt. Das war eine sehr gute Entscheidung, denn ab Augustów bis weit hinter die litauische Grenze habe ich eine wunderschöne Landschaft erleben dürfen. Inmitten von Wäldern hoher Nadelbäume sind immer wieder Seen und offene Lichtungen zu sehen und hinter der litauischen Grenze formen zusätzlich sanfte Hügel die Landschaft.
Einen ganz besonderen Moment werde ich nicht vergessen: Als ich die Abendsonne im Rücken über eine schnurgerade Straße durch einen dunklen Wald fuhr, habe ich stets im Fluchtpunkt die roten Wolken am Himmel sehen können. Je weiter ich darauf zugefahren bin, desto größer wurde das Licht und als ich den Waldrand passierte, war es, als ob die Farben explodieren wollten: Der tiefrote Abendhimmel tauchte eine riesige Ebene in ein durchdringendes Licht: Ein Moment wie aus einem Märchen.
Dieser Moment steht stellvertretend für all die schönen Dinge, die ich während der Fahrt gesehen habe: Auf die ganz besonders schönen Momente habe ich mich lieber eingelassen, statt aus ihnen herauszutreten und Fotos zu machen. Hier kann ich nun lediglich die romantische Erinnerung wiedergeben.
Nachts kam ich in Vilnius an und habe mich gewundert, wo eine Stunde meiner Zeit geblieben war. Erst nach einer Weile ist mir aufgefallen, dass ich bei meiner Reise nach Osten mit der Polnisch-Litauischen Grenze eine Zeitzone überschritten hatte.


Auf den ersten Blick ist Vilnius eine sehr europäische Stadt. Ein Litauer hat mir bei einem abendlichen Drink in einer Bar – Alkoholverzehr im öffentlichen Raum außerhalb von Gaststätten ist unüblich – in der Altstadt einen Teil der jüngeren Geschichte erzählt: So gibt es neben der wunderschöne Altstadt mit ihren vielen Kirchen und engen Gassen und einem florierenden Bankenviertel auch die von sowjetischer Architektur geprägten Vororte von Vilnius, in denen unter anderem die HBO Fernsehserie „Tschernobyl“ gedreht wurde.

Denn nicht nur der Kern von Vilnius ist sehenswert. Einer der beeindruckendsten Orte, die ich je gesehen habe, ist Europos Parkas, ein Waldpark am geografischen Mittelpunkt Europas, der Skulpturen von Künstlern aus aller Welt beherbergt. Europos Parkas ist ein wahrlich magischer Ort! Zu Beginn erhält man eine handgezeichnete Karte, wie eine Schatzkarte zu einer fantastischen Welt. Wenn man ungestört den Wald erkundet, findet man überall magische Orte. Strukturen, die eine Geschichte erzählen wollen. Ich persönlich habe den Park lediglich in einer Stimmung, im Sommer bei Tag, gesehen. Dieser Ort ist es wert, mit den tröpfelnden Regen, im mysteriösen Nebel und in lauen Nächten zusammen mit der Fauna, im Sommer wenn die Bäume Schatten spenden, im Herbst, wenn die Blätter leuchten, im Winter, wenn die Skulpturen unter einer weißen Decke schlummern und im erwachenden Frühling entdeckt zu werden. Sollte ich wieder nach Vilnius kommen, werde ich diesen Park immer wieder besuchen!
Klaipėda – Meer, mehr Meer und noch mehr Meer
Mein persönliches Sehnsuchtsziel dieser Reise und Grund diese überhaupt so auszulegen war die Stadt Klaipėda. Es ist eine Industriestadt an der Ostsee, dort wo das kurische Haff in die Ostsee mündet.
Mein Weg dorthin hat mich durch die etwas dünner besiedelten Teile Litauens geführt. Vorbei an einem mystischen Ort namens Šiauliai, respektive an den Berg mit den hunderttausend Kreuzen. Eine Geschichte um diesen Ort berichtet von der Unterdrückung der Religionsausübung durch die Sowjets, denen die Litauer einen nie abreißenden Strom von Kreuzen trotzig entgegengesetzt haben. Heute finden sich dort Kreuze aus aller Welt. Zum Beispiel von Militärabteilungen der US Air Force oder von Hilfsorganisationen. Dieser Ort wird mir als Symbol für friedlichen Protest und unverbrüchlicher Hoffnung gegen Unterdrückung in Erinnerung bleiben.

Schließlich habe ich Abends Klaipėda erreicht, das in den Erzählungen meiner Familie noch ab und an „Memel“ genannt wird. Durch meine persönliche Verbindung zu dieser Stadt kann ich ihrem Industrieflair durchaus einiges abgewinnen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich bereits vorher ein Faible für Industriecharme hatte und davon hat Klaipėda reichlich. Insbesondere die Abendsonne senkt einen ehrlichen Frieden über den Hafen. Die Gebäude und Schiffe erzählen von der Sowjet-Ära, harter Arbeit und einem Weg in eine moderne Gesellschaft nach westlichem Vorbild.
Nur wenige Meter und eine Fahrt mit der Fähre trennt Klaipėda von der Kurischen Nehrung. Die Landzunge grenzt im Süden auch an die russische Enklave Kaliningrad und kurz vor der Grenze hatte schon der Autor Thomas Mann in Nidden diese friedliche Natur zu schätzen gewusst. Sie ist ein atemberaubender Kontrast zur Stadt. Die Dünenlandschaft hat eine eigene Vegetation, die eine ganz eigene, wunderbare Ruhe hervorbringt.

Insbesondere entlang der Ostseeküste ist Litauen ein so wundervoller Flecken Erde. Nicht nur die kurische Nehrung, die eigentlich einen eigenen Artikel verdient, ist wunderschön. Dem friedlichen Strand steht der Touristenort Palanga gegenüber, der in meiner Familie gerne als „Polangen“ referenziert wird. Hier treffen sich vor allem junge Menschen um ihre Jugend an Sommerabenden zu feiern. Die Westlage der Küste lädt dazu herrlich ein, denn es gibt wohl kaum einen schöneren Anblick als die Sonne im Meer versinken zu sehen.

Bis ich diesen Anblick in Ventspils (deutsch: Windeck) in Lettland erleben konnte, habe ich jedoch erst 200 km nach Norden zurücklegen müssen. Wenn ich nicht über staubige Feldwege an uralten Windmühlen vorbeigefahren bin, konnte ich dabei viele Kilometer direkt an der Küste zurücklegen. Es ist einfach wunderbar, das scheinbar unendliche Wasser links, die freie Straße geradeaus und die goldenen Felder rechts während dieser Fahrt bewundern zu können. Ein wahrlich würdiges Finale für den Reiseabschnitt im Baltikum. Bereits vor dem Übersetzen der Fähre von Ventspils nach Stockholm habe ich für mich beschlossen, dass ich das Baltikum noch öfter besuchen werde.
Stockholm & Schweden: Vom Wasser, am Wasser, zu Wasser, zum Wasser
Nynäshamn begrüßte mich mit herrlichem Wetter und einem Bilderbuchidyll aus blauem Meer, rot-weißen Holzhäusern und blanken Felsen, die zwischen der Vegetation immer wieder ans Licht kommen. Not so Fun Fact: Zwei Wochen später steht die Fähre, mit der ich gekommen bin, in Flammen. Kurzerhand habe ich beschlossen, nicht auf direktem Weg nach Stockholm zu fahren, sondern kleine Wege zu suchen und den Weg mein Ziel sein zu lassen.
In Stockholm selbst musste ich einen Parkplatz für mein Motorrad zu finden. Auf der Gamla Stan, der bekannten Altstadtinsel Stockholms, stellte mich das tatsächlich vor eine echte Herausforderung: Es gibt zwar Parkplätze, die sind allerdings für Autos und für 2 Nächte nahezu unbezahlbar. Allgemein verbleibt bei mir der Eindruck, dass Stockholm im Kontrast zum restlichen Schweden nochmal deutlich teurer ist. Dafür ist die Stadt sehr gepflegt, die Häuser nobel, der Umgang gehoben und das kulturelle Angebot reichhaltig.
Nach einer Nacht in einem Mehrbettzimmer im Hostel habe ich beschlossen, die Stadt per pedes zu erkunden. Der bekannte Stortorget ist dabei mein Startpunkt. Insbesondere durch die unpassierbaren Wasserflächen zwischen den Inseln Stockholms werden die Wege sehr lang. Aus der Not habe ich mit einer Schärentour eine Tugend gemacht werden: So werden Wasserwege passierbar und ich konnte Stockholm auf eine wunderbare Weise entdecken.


In der kurzen Zeit, die ich in Stockholm verweilte, blieb mir nicht genügend Zeit um diese große Stadt auch nur annähernd zu durchdringen. Allerdings ist Schweden auch nicht nur Stockholm und so war ich bereits gespannt meine Etappe durch Schweden, auf den Weg nach Jönköping am Vättern, dem zweitgrößten See Schwedens und dem zehntgrößten Europas.
Da ich Hauptverkehrswege meide, habe ich mich oft auf Schotterwegen wiedergefunden. Was zunächst ungewohnt und für mich als Motorradfahrer gefährlich wirkte, hat sich schnell in eine Freude umgekehrt, ein bisschen schneller in die Kurve zu gehen und beim Herausbeschleunigen ein bisschen zu driften und Staub aufzuwirbeln. Mit viel Freude am Fahren habe ich so auch dem Vänern, den viertgrößten See Europas einen Besuch abstatten können.
Erst am Abend habe ich Jönköping erreicht. Nach einem Tag auf zwei Rädern fühlte ich mich ebenfalls gerädert. Der anschließende Saunagang war so wohltuend, dass ich mich noch zu einem kurzen Spaziergang habe hinreißen lassen.

Kopenhagen – Zweirad, aber unmotorisiert!
Weiter ging meine Reise erst einmal wieder in Schweden. Ein schönes Bild ist mir im Kopf geblieben, als ich auf der Öresundbrücke nach Kopenhagen fahren konnte: Von der Brücke aus kann man im Norden den charakteristischen Offshore-Windpark Kopenhagens entdecken und vom Meer umgeben fuhr ich kilometerlang der dänischen Hauptstadt entgegen.
Aus Stockholm Leid erprobt habe ich mich in Kopenhagen gleich dazu entschieden, weit Außerhalb zu parken, mein Gepäck mitzunehmen und schließlich mit dem Zug in die Innenstadt zu fahren.
Kopenhagen ist eine wunderbare Stadt! Ich habe mich sehr wohl gefühlt als ich die Stadt mit dem Fahrrad erkundet habe. Dazu beigetragen hat auch die Begegnung mit einem überaus freundlichen Australier namens Soroush.


Ein großartiger Start in den Tag war der Sprung in den Hafen, in einen der vielen frei zugänglichen Badebereiche. Diese herrlich unkomplizierte Art den Tag zu beginnen haben neben uns auch zahlreiche Einheimische genutzt.
Danach konnte ich entspannt die Stadt erkunden, die Sehenswürdigkeiten, wie den historischen Hafen, den Runden Turm oder das Schloss Rosenborg anschauen, Kaffee trinken, die Sonne und das Meer am östlichen Stadtstrand genießen, und das großartige Projekt „Christiana“ besuchen.
Mein persönliches Highlight war auf jeden Fall Tivoli, der seine Tore seit 1843 für Besucher*innen geöffnet hält. Die Lage mitten in der Stadt, die Vielzahl an Attraktionen, die Liebe zum Detail, aber allem Voran gute Gesellschaft machen diesen Freizeitpark wirklich zu etwas Besonderem.
Kopenhagen, als vorletzte Station auf meiner Reise ist ohne Zweifel auch deren Höhepunkt gewesen. Ein bisschen wehmütig, aber vor allem reich an Erfahrungen, wunderbaren Bildern, bleibenden Eindrücken und neuen Ideen habe ich Kopenhagen über die Fähre gen Heimat verlassen.
Greifswald – Zurück zu den Wurzeln
Doch bevor ich wieder zurück nach Dresden gefahren bin, habe ich eine letzte Rast in Greifswald eingelegt. Hier konnte ich Verwandte besuchen, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Hier kommt ein anderer Teil meiner Familie her. Hier kann ich einen Kreis um meine Geschichte schließen.
Nach fast 4000 km schaue ich zuversichtlich in die Zukunft: Ich werde mich noch einmal aufmachen um Teile meiner Geschichte entdecken, um Neues für mich zu entdecken und meinen Teil der Geschichte zu schreiben.
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