Ich bin 27 Jahre alt und hatte noch nie eine richtige Freundin. Das heißt nicht, dass ich misogyn, soziopathisch oder entstellt bin. Zumindest nicht zwangsläufig. Ich fühle mich meistens sehr unwohl, wenn das Thema Liebe, Sex und Beziehung aufkommt. Deshalb möchte ich hier schildern, wie ich das empfinde und hoffe, dass der Leser verstehen kann, warum.
Ich gehöre zu den „digital natives“ und bin mit dem Internet aufgewachsen. Deshalb verbringe ich viel Zeit im Netz, unter anderem auf Seiten wie reddit. Unter vielen Subreddits, die ich aktiv lese ist auch r/niceguys. Das ist ein Forum, in dem die abscheulichsten Seiten von meistens jungen Männern gegenüber Frauen zur Schau gestellt werden. Da ich wahrscheinlich keine Teilnehmer der dort dargestellten Communiqués persönlich kenne, kann ich nur vermuten, was in ihnen vorgeht, aber das ist nie eine Entschuldigung für Frauenhass. Persönlich habe ich mich schon sehr falsch gegenüber Frauen verhalten und dafür schäme ich mich sehr. Das werde ich auch nicht loswerden und möchte ich auch nicht kleinreden. Da ich mich aber nicht (mehr) damit identifizieren kann und will, möchte ich auch nicht näher darauf eingehen.
Dennoch fühle ich mich genötigt, diesen Absatz zu schreiben, weil ich mich mit diesem Vorwurf konfrontiert sehe, wenn ich darüber rede, dass ich keine Freundin habe. Gerade gestern habe ich ein gemütliches Bier mit zwei Freunden genossen, als das Thema aufkam. Dabei ist das Schema der Konversation ziemlich charakteristisch gewesen. Zunächst sind beide schockiert, dass ich in meinem Alter noch keine Freundin hatte, das kann ich durchaus nachvollziehen. Dann aber wird der Rückschluss getroffen: Eine Freundin zu haben, ist etwas normales, folglich muss mit mir etwas nicht stimmen. Und ab dann wird es für mich sehr unangenehm. Ich möchte hier ein paar typische Reaktionen schildern.
Es ist ein paar Jahre her, dass ich einen so engen Kontakt zu einem meiner besten Freunde hatte. Damals haben wir uns relativ häufig über Liebe und Sexualität unterhalten. Ich habe zugegebenermaßen gerne gejammert, dass ich keine Freundin finde. Daraufhin meinte er, dass ich „einfach ich selbst sein“ solle. Im Gespräch mit ihm sei ich ja auch umgänglich und entspannt. Ich würde auch so gestelzt hochdeutsch reden und dass das nicht gut ankäme.
Gestern meinte ein anderer Freund zu mir, dass das mit den Frauen garnicht so schwer wäre. Deshalb schlug er mir vor, bestimmte Verhaltensmuster zu adaptieren. Selbiger Freund hat mir YouTube-Videos vorgeschlagen von einem Mann, der Frauen anbaggert und damit erfolgreich ist. Es sei Überwindung der eigenen Comfort-Zone, man müsse Rückschläge vertragen können, deutlich offensiver an die Sache herangehen und einfach mal über seinen Schatten springen. Auch mal seine eigenen Prinzipien nicht ganz so ernst nehmen und einfach machen.
Der weitere Freund, der am gestrigen Gespräch zugegen war, hat laut eigener Aussage (und das ist durchaus plausibel) viel Sex mit wechselnden Partnerinnen. Er könne sich ein Leben ohne Frau nicht vorstellen und mich nicht verstehen. Und dann fing er an zu erzählen, wie das bei ihm so alles gelaufen ist. Wann er sein erstes Mal hatte, wie sich seine Sexualität entwickelt hat, was er dazugelernt hat, wie er zwischen Sex und Liebe differenziert und was er für eine ideale Beziehung hält.
Die drei Beispiele sind exemplarisch für das, was ich zu hören bekomme, wenn ich darüber reden möchte, dass ich keine Freundin habe, mir aber durchaus eine wünsche. Dabei habe ich das Gefühl, dass ich in diesem Moment darauf reduziert werde, keine Freundin zu haben. Das wird als Makel, als Fehler in meiner Person gesehen und den gilt es offenbar zu beheben. Deshalb bekomme ich dann gut gemeinte Ratschläge, gemischt mit ein wenig Unverständnis. Dass das aber zu meiner Person dazu gehört und auch immer dazugehören wird, ist schwer zu vermitteln. Natürlich denke ich manchmal, dass mir etwas fehlt, aber bisher hab ich auch ohne Freundin überlebt. Ich bin nicht weniger ich selbst, weil ich keine Freundin habe. Im Gegenteil; das gehört auch zu meiner Person dazu und das ist erstmal weder gut noch schlecht, sondern es ist einfach so.
Ich empfinde es als anstrengend, wenn ich mir sich teilweise widersprechende Tipps geben lassen muss, was ich verändern und verbessern kann. Ich habe auch viele von diesen Tipps immer mal versucht umzusetzen und bin dadurch trotzdem dort, wo ich jetzt bin. Manchmal finde ich Tipps nicht gut, habe sie bereits erfolglos umgesetzt oder möchte sie nicht umsetzen. Dann heißt es schnell, dass ich mir ja nicht helfen lassen wolle und ich nicht jammern solle. Wenn ich mit einem Freund schon mehr als einmal darüber geredet habe, dann kommt manchmal auch zurück, dass ich dann doch nicht immer mit derselben Leier kommen solle, wenn ich nichts verändern würde.
Natürlich nehme ich konstruktive Kritik gerne an und selbstverständlich versuche ich mich zu entwickeln. Aber wenn ich erzähle, dass ich keine Freundin habe und mir eine wünschen würde, dann nicht, weil ich ein Ideen-Briefkasten oder eine Beziehungs-Sandbox zum ausprobieren bin. Wenn ich darüber reden möchte, dann heißt das meist, dass ich momentan darüber nachdenke und ich jemanden gebrauchen könnte, der mir zuhört.
Ein paar Dinge sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten deutlich besser geworden, weil sie gesellschaftlich akzeptiert wurden. Ich bin als „Langzeit-Single“ ein Teil unserer Gesellschaft und auch nicht alleine. Ich versuche meinen Beitrag in der Gesellschaft zu leisten, ein guter Freund und Mensch zu sein. An mir ist nichts falsch und ich bin nicht krank, weil ich keine Freundin habe.
Zum Schluss möchte ich ein weiteres Beispiel von einem weiteren Freund nennen, mit dem ich über dasselbe Thema geredet habe. Es ist ein Kontrast zu dem, was ich bisher erlebt habe und hat sich an einer Feuertonne irgendwann im Dezember letzten Jahres zugetragen. Ich habe ihm erzählt, dass ich bisher keine Freundin hatte, das ich durchaus mit Frauen Kontakt habe, mir auch ein paar Frauen näher gekommen sind. Vieles von dem was ich erlebt habe, sind nicht so schöne Erfahrungen, manche sind besser. Er hat mir zugehört, ab und an erzählt was er wie erlebt hat und als ich mich verabschiedet habe, gesagt: „Du bist gut wie Du bist, ich unterstütze Dich, wenn Du meine Hilfe brauchst und alles andere wird sich zu seiner Zeit ergeben“.
Man ist nicht automatisch ein besserer Mensch, nur weil man eine klassische Liebesbeziehung führt. Es gibt ja nicht nur den Zustand von „ledig“ und „verheiratet“ und alle Menschen lassen sich in diese zwei Schubladen in „gute“ und „schlechte“ Menschen stecken.
Viel wichtiger ist doch aber das Entwicklungspotenzial, das eine Freundin oder ein Freund hat: nämlich „Werde ich zu einem besseren Menschen, wenn ich eine Liebesbeziehung führe?“ Durchaus. Es geht also gar nicht um den reinen Zustand, sondern viel mehr, was mit Dir passiert während einer Beziehung.
Beziehungen können alle möglichen Formen an menschlichen Empfindungen annehmen: sie können wunderbar, bedeutsam, euphorisch, aber auch furchtbar toxisch, anstrengend und langweilig sein. Wahrscheinlich durchleben die besten Beziehungen alle Phasen in verschiedenener Intensität. Und zwar alle zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir eingehen können, nicht nur die klassische Freund-Freundin-wir-bleiben-für-immer-zusammen-Beziehung.
Schon im alten Rom wurde durch grausame Experimente bewiesen, dass der Mensch ein zutiefst soziales Wesen ist und nicht allein überleben kann. Babies wurden organisch versorgt, dass sie nicht verhungern – aber dann hat man sie allein gelassen. Sie sind wortwörtlich an Einsamkeit gestorben.
Wir Menschen brauchen andere Menschen zum Überleben, das ist ein Fakt. Und es ist auch kein Zufall, dass wir ausgerechnet in der Zeit der Abnabelung von den Eltern (lange Zeit die wichtigsten Personen in unserem Leben) uns neuen Menschen zuwenden, von denen wir dasselbe erhoffen: Geborgenheit, Liebe und einen Rahmen, in dem wir uns frei entwickeln können.
Die Suche nach uns selbst hört niemals auf, selbst alt und betagt lernen wir immer dazu und lernen uns auch immer wieder neu kennen. Aber dazu brauchen wir andere Menschen, die uns dabei helfen. Wieso das so ist? Ich kenne eine Opernsängerin, sie singt schon seit Jahren professionell. Dennoch nimmt sie noch immer Gesangsunterricht. Ich fragte erschrocken weshalb, schien sie mir doch mit über 20 Jahren Gesangskarriere perfekt zu sein. Die Antwort simpel wie weise: „Because you need the outer ear“ Du kannst auch noch so trainiert, weise, erfahren oder überzeugt von Dir sein – damit wir uns weiterentwickeln können, brauchen wir jemanden, der uns einen Spiegel vorhalten kann. Denn rein physisch sind wir nicht dazu in der Lage uns von außen zu betrachten. Jeder Mensch ist doch auch erschrocken darüber, wie furchtbar er auf Videos klingt, weil er oder sie die eigene Stimme gar nicht wiedererkennt.
Aber was macht dann den Unterschied zwischen Freundes-Freunden und Liebes-Freunden? Wahrscheinlich gar nicht so viel (und meiner Meinung nach ist die sexuelle Komponente nicht der primäre Unterschied). Wir brauchen Menschen um uns herum, die uns helfen zu wachsen und mit denen wir uns wohl fühlen. Menschen, die uns nerven, kommen sowieso von alleine und die wird man meistens auch gar nicht so schnell los. Umso wichtiger, sich mit lieben Menschen zu umgeben, die uns bestärken und motivieren den richtigen Weg zu finden. Freundes-Freunde oder auch Familienmitglieder sind solche Leute. Im Idealfall unterstützen sie uns oder halten uns von schweren Fehlern ab, sie hören uns zu, wir hören ihnen zu. Aber schlussendlich bleibt jeder in seiner eigenen Blase und keine Entscheidung, die wir treffen, hat maßgeblichen Einfluss auf deren Leben. Deshalb können wir ein fast autarkes und egozentrisches Leben führen, was in hiesige moderne Zeiten passt: So viel wie möglich erleben, rumkommen, Erfahrungen sammeln. Ein Leben, in dem man die meisten Entscheidungen selbstbestimmt treffen kann.
Ich persönlich finde, dass es im Leben nicht darum geht einen Lebenslauf mit möglichst wenig Lücken zu führen. Weil es nun mal erwartet wird in jungen Jahren dem einzig vorbestimmten Seelenpartner über den Weg zu laufen und dem gesellschaftlich deklariertem Happily-ever-after nachzueifern. Vielleicht in den 50ern ein Lebenskonzept, was kollektive Zufriedenheit vorgegaukelt hat. Ich befürchte fast, dass jene Generation nicht glücklicher ist als die jetzt Heranwachsende (auch, wenn Goldene Hochzeiten sehr viel Mut geben können).
Du bist mit Ende Zwanzig vielleicht ein Mensch, der noch keine Erfahrungen mit klassischen Liebesbeziehungen gemacht hat. Na und? Ein anderer Mensch mit Ende Zwanzig hat sowieso ganz andere Erfahrungen mit ganz anderen Menschen gemacht und man sollte sich bei so sensiblen und individuellen Sachen lieber nicht vergleichen. Denn die Erfahrungen eines anderen Menschen sind die seinen und können Dir maximal einen Einblick geben, aber mehr auch nicht. Sie sollten keinen Spielraum für Verurteilung oder suggerierter Abnormalität geben. Man kann ja auch plakativ andersherum fragen: Ist man ein besserer Mensch, wenn man mit Ende Zwanzig schon mit 100 verschiedenen Menschen geschlafen hat? Von Romanze zu Liason geschlittert ist? Und vielleicht dennoch nicht zufriedener ist? Ist man denn wirklich zufriedener, wenn man 100 Optionen ausprobiert hat und das seltsam leere Gefühl, nicht das Richtige gefunden zu haben, bleibt nach wie vor?
Man möchte meinen in unserer Gesellschaft können wir erst eine Meinung bilden, wenn wir die meisten Optionen probiert haben. Erst, wenn wir bei der Weinverkostung alle 12 Gläser ausgesoffen haben, können wir objektiv beurteilen, welcher Wein der Beste war. Dass wir aber nach 2 Stunden und starker Trunkenheit gar nicht mehr wissen wie Wein Nr. 1 geschmeckt hat, soll die Grundlage für eine objektive Meinung sein? Als großes Ziel das Beste aus vielen Optionen zu wählen, den größten Deal einzufahren und damit die größte Zufriedenheit zu garantieren?
In meinen Augen birgt diese Fast-Love-Attitüde eine riesengroße Gefahr niemals DIE eine vorbestimmte Seelenpartnerschaft zu finden (wenn es diese denn überhaupt gibt). Vielleicht sollten wir uns lieber darauf konzentrieren, welche Werte, Vorstellungen und Erwartungen wir im Hier und Jetzt haben – und wie sich eine Partnerschaft möglichst passend integrieren lässt. Denn Liebesbeziehungen, so schön sie sein können, sind unglaublich herausfordernd. Immer wieder müssen wir wählen zwischen Selbst- und Fremdliebe. Zwischen meinen Bedürfnissen und ihren Bedürfnissen. Zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit. Und dann muss auch noch eine passable Person ins Leben purzeln, die uns charakterlich und optisch gefällt. Ganz schön viel Druck.
Am Ende wollen wir alle dasselbe. Und das ist Liebe. Geborgenheit. Sicherheit. Im Idealfall mit einer Person, die das in eigener Natürlichkeit geben kann, nicht weil es gefordert wird. Ein Mensch, der Dich inspiriert und Dich bestärkt. Der Dich zu einem besseren Menschen macht, indem er Dir zeigt, wo Deine Baustellen sind und wo Dein Entwicklungspotenzial liegt. Der Dir Raum und Zeit für Deinen eigenen Weg gibt. Und genau deswegen, WERDEN wir zu besseren Menschen in einer Liebesbeziehung. Nicht der Zustand, sondern viel mehr der Prozess sollte (wenn überhaupt) bewertet werden.
Und manchmal purzelt eben dieser mögliche Mensch nicht mit 18 oder 25 in Dein Leben. Manchmal kommt der erst im letzten Drittel oder womöglich niemals. Vielleicht sollte man auch grundsätzlich sein Glück nicht von einer anderen Person abhängig machen. Du bist mit Sicherheit schwer in Ordnung so wie Du bist und deinen bisherigen Lebensweg kannst Du nicht verleugnen, er ist ein wichtiger Teil deines jetzigen Ichs. Und was andere von Dir denken, kann Dir in dieser Sache wohl herzlich egal sein.