Eine Freundin hat mir die Rede „Einigung Europas“ von Stefan Zweig geschickt und mich gebeten, ob ich nicht einen Text dazu beitragen könnte. Diese Geste hat mich so gefreut, dass ich umgehend angefangen habe zu schreiben. Nicht nur, dass ich mich liebend gerne über Europa, dem Konzept der Europäischen Union und der europäischen Idee äußere, sondern auch, weil es mir viel bedeutet, gesehen und nach meiner Meinung gefragt zu werden.
Ich bin für zwei Jahre in Texas. Ein halbes ist fast rum und ich lerne echt viele Dinge. Offensichtliche Dinge wie, dass „conundrum“ „Rätsel“ heißt. Nicht ganz so offensichtliche Dinge, wie dass Verbraucherschutz und TÜV sehr europäische Ideen sind. Und auch Dinge, die sich mir erst langsam erschließen, wie dass eine Sozialisierung in der US-amerikanischen Gesellschaft eine völlig andere Kultur hervorbringt und dass ich mit meiner deutschen Sozialisierung mit jedem Schweden, Italiener, Portugiesen und Rumänen wahrscheinlich viel mehr gemein habe als mit einem US-Amerikaner.
Auch wenn es nicht immer so wirkt, haben wir bereits eine europäische Kultur. Wir haben Jahrhunderte gemeinsam verflochtener Geschichte, steinalte Kirchen, Fußgängerzonen, Sozialleistungen, den fantastischen Fernsehsender arte, öffentlichen Nah- und Fernverkehr, den eben schon erwähnten Verbraucherschutz, das Erasmus-Programm, Handball-Europameisterschaften und das Interrail-Ticket. Die Europäische Union ist der größte Markt der Welt und, auch wenn ich den Prozess als schleppend empfinde, sind wir dabei, Ökonomie, Ökologie und Sozialstaat miteinander zu vereinbaren. Europa hatte schon immer eine gemeinsame Geschichte und viel Wichtiger ist, dass wir vor allem eine gemeinsame Zukunft haben. Dem fanatischsten Faschisten ist bewusst, dass keine Alternative zu Europa vermittelbar ist.
Aber entgegen häufiger Darstellung sind Faschisten nicht dumm. Sie haben wie die Werbeindustrie gelernt unsere menschlichsten Empfindungen zu instrumentalisieren: Unser Selbsterhaltungstrieb, unsere Hormone und unsere Emotionen und Gefühle machen uns beeinflussbar. Deshalb wird es immer bequemer sein, eine gefühlte Realität mit biederem Familienmodell und überholten Wirtschaftsmodellen und eine romantische Verklärung der Vergangenheit mit biodeutschen Wurzeln und einem sorgfältig kuratierten nationalen Narrativ zu akzeptieren, als etwas zu verbessern. Auch, weil es einfacher ist, das Wetter, die Kollegen oder die Arbeit der Bunderegierung zusammen doof zu finden, statt sich gemeinsam für beispielsweise fahrradfreundliche Innenstädte, ehrenamtliche Vereinsarbeit oder Bürgerräte zu begeistern und einzusetzen.
Leider haben Faschisten mit Angst gegenüber vor Perspektivlosigkeit und Verfolgung Fliehenden und Stolz auf eine bestenfalls eigenwillige Geschichtserzählung besorgniserregend große Teile der Gesellschaft in emotionale Geiselhaft genommen. Obwohl soziale Parteien überlegene Ideen haben, sind Ergebnisse wie in Sachsen und Thüringen im September 2024 oft ernüchternd. Ich brauche keine rhetorischen Fragen zu stellen, um zu sehen, dass die Inhalte offensichtlich nicht so überzeugen. Dabei liegt es meiner Meinung nach nicht an den Inhalten selbst, sondern an einem seit der Aufklärung falschen Bild vom „rationalen Menschen“, der vernünftig und logisch entscheidet.
Ich lerne mich jeden Tag ein bisschen besser kennen und erkenne auch als studierter Ingenieur bei mir und meinem Mitmenschen: Da ist das allerwenigste rational. Oder auf vollständigen Informationen basiert. Oder vernünftig. Der Kollege, der seine Meinung mit Verweis auf seine Tabelle für „objektiv“ hält, reagiert sehr wahrscheinlich emotional. Sind wir beim Design unserer Demokratie davon ausgegangen, dass Menschen rational und vernünftig handeln? Dann sollten wir vielleicht unser Menschenbild aktualisieren.
Stefan Zweig hat das gesehen. All die großartigen Errungenschaften Europas sind schwer zu vermitteln, wenn wir sie nicht wertschätzen können. Was habe ich von CERN und die ESA bezahlt auch nicht meine Miete! Medien haben eine mächtige Rolle im Spiel um Deutungshoheit und unsere Emotionen. Emotionen sind Reichweite, Reichweite ist Deutungshoheit, Deutungshoheit ist Wahrheit.
Was wir tun können, ist unsere eigene Geschichte erzählen. Eine Geschichte, in der eine deutsche Ampel-Regierung mit Bürgergeld, Cannabis-Entkriminalisierung und Deutschlandticket mehr Dinge verbessert hat als 16 Jahre konservativer Stillstand. Eine Geschichte von einem Kontinent, der bei der Bekämpfung einer Pandemie erfolgreich zusammengearbeitet hat. Eine Geschichte von einer Wirtschaftsgemeinschaft, die durch ein gesellschaftszentriertes Weltbild eingesehen hat, dass nur ökologisches Wirtschaften nachhaltig die Versorgung aller sichert. Eine Geschichte, in der die europäischen Staaten, ohne zu eskalieren einen russischen Diktator nicht in seinem Angriffskrieg auf die Ukraine gewähren lassen.
Und ich möchte von einer Zukunft erzählen. Einer Zukunft, in der vereinte europäische Streitkräfte Werte wie Gleichheit und individuelle Freiheit hochhalten, abgestimmt handeln um Konflikte und Leid zu vermeiden und dabei den Austausch vieler Kulturen fördern. Ich möchte von einer Zukunft erzählen, in der Reisen mit der Bahn in ganz Europa unkompliziert, schnell, pünktlich, sicher und für jeden erschwinglich völlig normal ist. Ich möchte von einer Zukunft erzählen, in der wir Kindern und jungen Erwachsenen helfen, mit ihren Hormonen, ihren Emotionen und ihren Gefühlen umzugehen, sich darüber auszutauschen, statt sie hinter einer normativen und konformen Fassade wegzusperren. In der Hoffnung, dass Europa als Musterbeispiel dient und wir jeden, der mit uns lernen möchte, mit offenen Armen empfangen können.
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